Vierzehntes Kapitel
»Und für mich, was darf ich hoffen?«, lispelte er leise. - »Lassen Sie mich Ihnen die Antwort schuldig bleiben«, versetzte Charlotte. »Wir haben nicht
verschuldet, unglücklich zu werden, aber auch nicht verdient, zusammen glücklich zu sein.«
Charlottes karge Antwort verdeckt das logische Problem, in das Goethe seine Figur hier hineinmanövriert hat. Wenn Charlotte dem Schicksal zugesteht, dass es ihren eigenen Wunsch und Vorsatz, Eduard mit Ottilie zu verbinden, mit der ihr abverlangten Scheidung "wieder in den Weg bringen" wollte - warum fasst sie es nicht auch als einen Schicksalswink auf, dass sie jetzt den Major heiraten kann? Da Goethe einen solchen Ausgang sicherlich nie erwogen hat, schon eine Komplikation in dieser Richtung nicht, weil Ottilies kategorische Ablehnung der Scheidung dann Charlotte ja geradezu brüskieren würde, bleibt ihm an dieser Stelle nur übrig, seine Figur und auch sich selbst mit einem ebenso kategorischen wie dunklen Satz aus der Affäre zu ziehen.
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»Zum zweiten Mal«, so begann das herrliche Kind mit einem unüberwindlichen, anmutigen Ernst ...
Ottilie hier als "das herrliche Kind" bezeichnet zu sehen, ist doch etwas sonderbar, schließlich hat ihre Unbedachtheit den Tod eines Kindes nach sich gezogen.
Du sagtest mir einst, es begegne den Menschen in ihrem Leben oft Ähnliches auf ähnliche
Weise und immer in bedeutenden Augenblicken.
Dass Ottilie Charlotte hier duzt, soll ihre sittliche Ebenbürtigkeit dieser gegenüber anzeigen. In allen früheren Gesprächen redet sie Charlotte mit 'Sie' an (siehe
SECHSTES KAPITEL) und auch danach geht sie zu dieser Anredeform wieder über (siehe
ZWEITER TEIL, FÜNFZEHNTES KAPITEL).