Siebentes Kapitel
Da zeigte sich denn, dass der Hauptmann vergessen hatte, seine chronometrische Sekundenuhr aufzuziehen, das erste Mal seit vielen Jahren; und sie schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnen, dass die Zeit anfange, ihnen gleichgültig zu werden.
Das Gleichgültigwerden der Uhrzeit ist für damals etwas hoch Bedeutsames. Die Aufklärung hatte die tägliche Zeitplanung zum Grundsatz aller vernünftigen Lebensgestaltung gemacht, und die überall an den Kirchen, Rathäusern und sonstigen Türmen angebrachten Uhren zeigten jedem an, wie spät es gerade war. Als in der Revolutionszeit in Frankreich der Plan aufkam, nicht nur einen neuen Kalender, sondern auch eine neue Tagesgliederung einzuführen - zweimal zehn Stunden für den Tag -, scheiterte das an der nicht zu bewältigenden Masse auszutauschender Uhren.
Das beflissene Wahrnehmen der Uhrzeit wurde früh auch schon verspottet. Der Mann nach der Uhr heißt eine Komödie von Theodor Hippel, erschienen 1766, in der selbst noch Liebeserklärungen minutengenau abgegeben werden. Die allgemeine Entwicklung zu einer genauen Zeitmessung war jedoch nicht aufzuhalten. Wenn den Hauptmann und Eduard die Uhrzeit nicht mehr kümmert, bedeutet das die Abkehr von einer ordentlichen, vernünftigen Lebensführung überhaupt.
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»... Tun Sie es mir zuliebe, entfernen Sie das Bild, nicht aus Ihrem Andenken, nicht aus Ihrem Zimmer; ja geben Sie
ihm den schönsten, den heiligsten Ort Ihrer Wohnung; nur von Ihrer Brust entfernen Sie etwas, dessen
Nähe mir, vielleicht aus übertriebener Ängstlichkeit, so gefährlich scheint!«
Was Eduard mit dieser Bitte meint, ist so durchschaubar, dass man sich wundert, wie er es überhaupt vorbringen kann. Natürlich will er sie, die seine Tochter sein könnte, der väterlichen Aufsicht und Obhut entziehen, weil er sie nur so zu seiner Geliebten machen kann. Die Vorstellung, eigentlich bei ihrem Vater um ihre Hand anhalten zu müssen, ist ihm so unbehaglich, dass er dessen Bild beim Umgang mit ihr nicht vor Augen haben will. Er selbst durchschaut das allerdings nicht oder gesteht es sich nicht ein, und so begründet er seine Bitte mit der Angst um eine Verletzung. Die Umständlichkeit, mit der Goethe diese Ausflucht vorbereitet, lässt aber erkennen, dass dem Leser der wahre Grund nicht verborgen bleiben soll. Wenn Eduard es nicht wagt, "das Bild an seine Lippen zu drücken", bestätigt das noch einmal sein wahres Motiv. Er fühlt, dass das Heuchelei wäre, und unterlässt es deshalb.
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Der Freund wagte nicht, das Bild an seine Lippen zu drücken, aber er fasste ihre Hand und drückte
sie an seine Augen. Es waren vielleicht die zwei schönsten Hände, die sich jemals zusammenschlossen.
Die beiden "schönsten Hände" sind ein nahezu unerträglicher erzählerischer Fehlgriff, nicht der einzige in diesem Roman, mit einem
jüngeren Begriff nur als Kitsch zu bezeichnen. Weder vorher noch später wird jemals gesagt, dass Eduard und Ottilie besonders
schöne Hände haben, und da Eduard Ottilies Hand an seine Augen drückt, könnte keiner von beiden das in diesem
Moment auch feststellen. Es spricht sich allein die Andacht des Erzählers angesichts einer ersten Liebesberührung darin aus. Nur ist es ganz unrichtig,
dass dabei das Aussehen der Hände abwägend beurteilt wird.