Die Handlungszeit des Romans wird nie anders als mit Monatsnamen oder Angaben zur Jahreszeit bezeichnet, erstreckt sich aber gut
nachvollziehbar über anderthalb Jahre von einem Apriltag zu Beginn bis zu einem Herbsttag des Folgejahres. Eine Jahreszahl
hat keiner der frühen Leser vermisst. Alle Umstände weisen darauf hin, dass es sich um die jüngste damalige Gegenwart, also
die Zeit kurz vor dem ersten Erscheinen des Romans handelt.
»... wir wurden getrennt; du von mir, weil dein Vater, aus nie zu sättigender Begierde des Besitzes, dich mit einer
ziemlich älteren, reichen Frau verband; ich von dir, weil ich, ohne sonderliche Aussichten, einem wohlhabenden, nicht geliebten,
aber geehrten Manne meine Hand reichen musste. Wir wurden wieder frei ...«
Eine so schlichte Zusammenfassung der Vorgeschichte würde sich heute kein Autor mehr erlauben können, es soll sich
ersichtlich keinerlei Interesse auf sie richten. Da arrangierte Ehen im hohen Adel die Regel waren (oder die öffentliche
Meinung sie für die Regel hielt), wurden dazu auch keine Fragen gestellt. Ungewöhnlich ist allerdings doch, dass
sich Eduard die Ehe mit einer wesentlich älteren Frau hat aufdrängen lassen. Im zweiten Kapitel wird ausdrücklich von
einer "
seltsamen Heirat" gesprochen. Seine Bestimmbarkeit in
diesem Punkt soll ihn also wohl auch als einen schwachen Charakter kennzeichnen. Auf der anderen Seite musste Goethe glaubhaft machen,
dass beide, Eduard wie Charlotte, ihre ersten Ehepartner früh verlieren und ihnen nicht nachtrauern. Mit einer jungen Frau als Gattin wäre
das für Eduard nicht leicht einzurichten gewesen.
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»Das kann wohl geschehen«, versetzte Eduard, »bei Menschen, die nur dunkel vor sich hinleben, nicht bei solchen, die,
schon durch Erfahrung aufgeklärt, sich mehr bewusst sind«.
Ironie des Erzählers! Nicht nur wird sich herausstellen, dass die von Charlotte befürchtete Änderung des Verhältnisses der Gatten zueinander eintritt, es ist auch Eduard gerade nicht der Mensch, der sich seiner selbst in dem behaupteten Sinn 'bewusst' ist.