
In den 1820er Jahren kommt 'Novelle' als Bezeichnung für den heute darunter verstandenen Erzähltypus aber mehr und mehr in Umlauf.
Der 1826 veröffentlichte 'Taugenichts' von Eichendorff
heißt
auch Novelle, und die zwei Jahre später erscheinende "Novelle" von Goethe will diesem Typus geradezu exemplarisch
entsprechen. Bei den Novellen Theodor Storms, Gottfried Kellers, Conrad Ferdinand Meyers und vieler weiterer Autoren ist das Publikum dann
völlig im Bilde, was es sich unter den so bezeichneten Werken vorzustellen hat: eine um wenige Personen und einen kürzeren Zeitraum
kreisende 'Erzählung mittlerer Länge'.
2. Aufkommen und Verbreitung der Novelle im 19. Jahrhundert

Für die große Zahl von Novellen, die im 19. Jahrhundert entsteht, gibt es zwei Gründe: die Abgrenzung der damals jungen
Erzählliteratur von den Traditionen des Romans und das auf dem Buchmarkt rasch sich ausbreitende Angebot von monatlich
erscheinenden Journalen.

Wie Rolf Schröder nachgewiesen hat
1), ist ein wesentlicher Grund für das Aufkommen
der 'Novellen'-Bezeichnung im frühen 19. Jahrhundert ein bestimmter oder auch schlechter Ruf, den der Roman zu
dieser Zeit hat: nämlich eine abenteuerlich unwahrscheinliche, fantastische, immer nur von Ritter- und Räuberzeiten
handelnde Gattung zu sein. Der Roman war 'romanhaft' im schlechten Sinne, d.h. er galt als schwülstig und unglaubwürdig,
so wie man heute noch sagt: erzähl mir keine Romane. Wer gegenwarts- oder wirklichkeitsnah erzählen oder wenigstens diesen
Anschein erwecken wollte, so wie es der aufkommende Realismus verlangte, tat gut, diesen Begriff zu meiden. Die Festgelegtheit
der Handlung nach Zeit, Ort und dem Leser bekannten Umständen ist deshalb damals vor allem ein Merkmal der Novelle, der
Roman folgt dieser Neuerung - als realistischer Roman - erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Das massenhafte Aufkommen dieser mittellangen, anscheinsweise realistischen Erzählungen hat aber noch einen zweiten, dem
Buchmarkt zuzuschreibenden Grund. Immer mehr Leser fanden Geschmack an literarischen Zeitungen und Zeitschriften, die in einer
Mischung von Gedichten, Erzählungen, Anekdoten, Buchbesprechungen, moralischen Betrachtungen, Gedanken zum Zeitgeschehen usw.
von Woche zu Woche oder auch im monatlichen Abstand Neues bringen mussten.
2) Alle diese
Almanache, Magazine, Journale oder Monatshefte benötigten regelmäßig erzählende Texte, die - über einige Nummern
gestreckt - die Leser bei der Stange halten konnten, aber auch wieder nicht zu lang sein durften, das Interesse nicht abflauen zu lassen.
Das leistete die 'Novelle'. Auch Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Storm, Keller, Meyer, Hauptmann oder Thomas Mann hatten gegen den
Erstdruck ihrer Novellen in Zeitschriften nichts einzuwenden, er wurde gut bezahlt und zog auch noch Buchkäufer nach sich.
3. Definitionen

Die große Beachtung, die die Novelle als Erzählform im 19. Jahrhundert fand, hat immer wieder auch Anlass gegeben zu überlegen,
was sie - außer ihrem geringeren Umfang - eigentlich vom Roman unterschied. Drei Bestimmungen haben sich
aus dieser Zeit eingeprägt: die von Goethe, die von Paul Heyse und die von Theodor Storm.
Goethe schrieb 1827 an einer Erzählung, in der einer Schausteller-Familie bei einem Brand ein Tiger und ein Löwe
entlaufen und eine adlige Jagdgesellschaft dadurch beunruhigt wird. Der Tiger, obwohl harmlos, wird von einem der Adligen für
gefährlich gehalten und erschossen, der Löwe jedoch von dem kleinen Sohn der Schausteller durch Flötenspiel beruhigt
und wieder eingefangen. Über diese - natürlich hoch symbolische - Geschichte tauschte sich Goethe wiederholt mit seinem
Sekretär Eckermann aus und beriet mit ihm zuletzt auch den Titel. Unter dem Datum des 25. Januar 1827 notiert Eckermann:
Wir taten manche Vorschläge, einige waren gut für den Anfang, andere gut für das Ende, doch fand sich keiner, der
für das Ganze passend und also der rechte gewesen wäre. "Wissen Sie was", sagte Goethe, "wir wollen es die
Novelle nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff,
und so vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie
sonst wollen. In jenem ursprünglichen Sinne einer unerhörten Begebenheit kommt auch die Novelle in den Wahlverwandtschaften
vor."3)

Unter Goethes allgemeinster Formulierung lässt sich natürlich vieles versammeln, und so hat sie sich auch einer großen Zahl von
Novellen gegenüber bewährt. Kritisch angewendet müsste man allerdings feststellen, dass dann weder Hoffmanns 'Goldener Topf'
noch Eichendorffs 'Taugenichts' als Novellen gelten könnten, ebenso wenig Storms 'Auf dem Staatshof' und der 'Schimmelreiter' und noch
weniger Thomas Manns 'Tristan'. Aber natürlich ist niemand je darauf verfallen, diese beiläufige Kennzeichnung zum Kriterium einer
Sortierung zu machen.
Paul Heyse stellte 1871 die sogenannte Falken-Theorie auf, angelehnt an eine Novelle aus dem 'Dekameron', die sich in ihrer
anrührenden Tragikomik auch heute noch in der Schule mitzuteilen lohnt. Wer diese
NEUNTE GESCHICHTE DES FÜNFTEN TAGES
einmal gelesen hat, wird sich lange an sie erinnern. Paul Heyse schreibt:
Eine starke Silhouette ... dürfte dem,
was wir im eigentlichen Sinne Novelle nennen,
nicht fehlen, ja wir glauben, die Probe auf die Trefflichkeit eines novellistischen Motivs werde in den meisten Fällen darin bestehen,
ob der Versuch gelingt, den Inhalt in wenige Zeilen zusammenzufassen, in der Weise, wie die alten Italiener ihren Novellen kurze
Überschriften gaben, die dem Kundigen schon im Keim den specifischen Werth des Thema's verrathen. Wer, der im Boccacz
die Inhaltsangabe der 9ten Novelle des 5ten Tages lies't:
"Federigo degli Alberighi liebt, ohne Gegenliebe zu finden; in ritterlicher Werbung verschwendet er all seine Habe und
behält nur noch einen einzigen Falken; diesen, da die von ihm geliebte Dame zufällig sein Haus besucht und er sonst
nichts hat, ihr ein Mahl zu bereiten, setzt er ihr bei Tische vor. Sie erfährt, was er gethan, ändert plötzlich ihren
Sinn und belohnt seine Liebe, indem sie ihn zum Herrn ihrer Hand und ihres Vermögens macht"
- wer erkennt nicht in diesen wenigen Zeilen alle Elemente einer rührenden und erfreulichen Novelle, in der das Schicksal
zweier Menschen durch eine äußere Zufallswendung, die aber die Charaktere tiefer entwickelt, aufs Liebenswürdigste
sich vollendet? Wer, der diese einfachen Grundzüge einmal überblickt hat, wird die kleine Fabel je wieder vergessen,
zumal wenn er sie nun mit der ganzen Anmuth jenes im Ernst wie in der Schalkheit unvergleichlichen Meisters vorgetragen
findet.
Wir wiederholen es: eine so einfache Form wird sich nicht für jedes Thema unseres vielbrüchigen modernen Kulturlebens
finden lassen. Gleichwohl aber könnte es nicht schaden, wenn der Erzähler auch bei dem innerlichsten oder reichsten
Stoff sich zuerst fragen wollte, wo 'der Falke' sei, das Specifische, das diese Geschichte von tausend anderen
unterscheidet.
4)

Ein solcher zentraler Gegenstand, um den sich die Handlung im Wesentlichen entwickelt, wird oft 'Dingsymbol' genannt.
Das ist jedoch irreführend, weil etwas Symbolisches darin nicht liegen muss (auch Boccaccios Falke ist kein
Symbol), sondern es sich einfach nur um eine immer wieder berührte Sache handelt. Eine solche 'Hauptsache' findet
sich jedoch wirklich in den meisten der hier ausgewählten Novellen: für Kleists 'Kohlhaas' sind es die Rappen, für
Droste-Hülshoff ist es die markierte Buche, für Kellers 'Romeo und Julia' der umstrittene Acker und für 'Kleider machen
Leute' Strapinskis Mantel. Bei Storm gibt es in 'Auf dem Staatshof' den Haubarg mit dem Pavillon und im 'Schimmelreiter' natürlich
den Schimmel, bei C.F.Meyer das Amulett und bei Hauptmann den Bahnübergang, ja selbst noch für Thomas Manns 'Tristan'
gibt es diese zentrale Sache in der Musik Wagners. Nur mit Hoffmanns 'Goldenem Topf' (der als Gegenstand völlig
belanglos ist), mit Eichendorffs 'Taugenichts' (oder sollte es hier die Geige sein?) und mit Kafkas 'Urteil' kommt man in dieser
Hinsicht zu keinem befriedigenden Resultat.

Die Regelmäßigkeit, mit der ein 'Falke' oder eine solche Hauptsache in den Novellen anzutreffen ist, ist allerdings auch
nicht weiter verwunderlich. Insofern es in der traditionellen Novelle immer um einige wenige Menschen und eine konfliktträchtige Beziehung
zwischen ihnen geht, liegt es nahe, dass auch eine bestimmte Sache dabei eine Rolle spielt, und nur dies als Unterscheidungsmerkmal für die
ansonsten vielleicht nicht unähnlichen Handlungen hat Heyse mit seiner Forderung nach einem 'Falken' gemeint.
Theodor Storm definierte 1881 die Novelle wegen ihres strengen Aufbaus als die 'Schwester des Dramas':
Die Novelle, wie sie sich in neuerer Zeit, besonders in den letzten Jahrhunderten, ausgebildet hat und jetzt in einzelnen Dichtungen
in mehr oder minder vollendeter Durchführung vorliegt, eignet sich zur Aufnahme auch des bedeutendsten Inhalts, und es wird
nur auf den Dichter ankommen, auch in dieser Form das Höchste der Poesie zu leisten. Sie ist nicht mehr, wie einst, 'die
kurzgehaltene Darstellung einer durch ihre Ungewöhnlichkeit fesselnden und einen überraschenden Wendepunkt
darbietenden Begebenheit'5);
die heutige Novelle ist die Schwester des Dramas und die
strengste Form der Prosadichtung. Gleich dem Drama behandelt sie die tiefsten Probleme des Menschenlebens; gleich diesem verlangt
sie, zu ihrer Vollendung, einen im Mittelpunkt stehenden Konflikt, von welchem aus das Ganze sich organisiert, und demzufolge die
geschlossenste Form und die Ausscheidung alles Unwesentlichen; sie duldet nicht nur, sie stellt auch die höchsten Forderungen
der Kunst. Daß die epische Prosadichtung sich in dieser Weise gegipfelt und gleichsam die Aufgabe des Dramas übernommen
hat, ist nicht eben schwer erklärlich, [...] aber was solcherweise der dramatischen Schwester entzogen wurde, ist der
epischen zugute gekommen.6)

Die Anordnung der Handlung um einen einzigen Konflikt und der demzufolge dramenähnliche Aufbau sind tatsächlich bei vielen
Novellen des 19. Jahrhunderts zu beobachten, wenn auch nicht in der manchmal unterstellten genauen Parallelität zum
fünfaktigen Drama, also einem Aufbau mit Exposition, steigender Handlung, Höhepunkt, fallender Handlung und retardierendem
Moment bis zur Katastrophe. Schon jedoch die häufigen Dramatisierungen oder Verfilmungen, die es von den Novellen gibt,
weisen auf die Verwandtschaft zum Drama hin.

Auf unsere Novellenauswahl angewendet, lässt sich erkennen, dass eine solche dramenähnliche Struktur auf jeden Fall
vorliegt bei Kleists 'Kohlhaas', bei Drostes 'Judenbuche', bei den beiden Novellen Kellers, bei Meyers 'Amulett' und bei
Storms 'Schimmelreiter'. Schon weniger entsprechen diesem Muster Hoffmanns 'Goldener Topf', Eichendorff 'Taugenichts'
und Storms 'Auf dem Staatshof', insofern es sich bei ihnen eher um eine Reihe von Episoden handelt, und gar nichts gewinnt man damit
für die hauptsächlich innenperspektivisch angelegten Novellen von Hauptmann, Thomas Mann und Kafka. Kafka allerdings,
das ist einzuräumen, hat die Bezeichnung Novelle für sein 'Urteil' auch nicht gebraucht, sondern immer von einer
Erzählung gesprochen.
4. Formmerkmale

Wie sich aus der Überprüfung schon allein der Novellen-Kennzeichnungen von Goethe, Heyse und Storm ergibt, wird eine
Texttyp-Bestimmung, die für alle unter diesem Namen geführten Erzählwerke gleichermaßen gilt und dabei
auch noch etwas aussagt, kaum zu finden sein. Das grundsätzliche Problem aller solcher Versuche ist ja bereits die Auswahl. Hält man
sich allein an Werke, die von den Autoren (oder Verlegern?) auch als 'Novellen' ausgegeben worden sind, dann gehörten in unserem
Falle schon 'Michael Kohlhaas', der 'Goldene Topf', die 'Judenbuche', die beiden Seldwyla-Geschichten von Keller und Kafkas 'Urteil' nicht dazu.
Hält man sich umgekehrt an eine bestimmte Definition, müsste man wiederum Werke wahrscheinlich aussondern - z.B. Eichendorffs
'Taugenichts' -, die als 'Novellen' ausdrücklich bezeichnet worden sind, aber der Definition nicht entsprechen. Und könnte sich auf
dem ersten Weg mit jedem weiteren Text, der als Novelle in Umlauf kommt, der Definitionsrahmen ändern, gerät man auf dem zweiten in
Gefahr, besserwissend immer wieder erklären zu müssen, dass bestimmte Werke, die 'Novellen' heißen, eigentlich keine sind.

Es wird eine solche Definition aber auch gar nicht gebraucht. Angesichts der Vielzahl der Erscheinungen, die unter dem Begriff in der
Literaturgeschichte aufgetreten sind, muss man vielmehr folgern, dass es
die Novelle überhaupt nicht gibt und schon die
Bezeichnung Gattung eigentlich unangebracht ist. Das einzig Sinnvolle ist, das novellistische Erzählen vom Erzählen allgemein zu unterscheiden,
insofern es sich von ihm als literarischer Sonderfall abhebt. In Tabellenform wiedergegeben, lassen sich folgende Unterschiede benennen:
|
Erzählung |
Novelle |
Thematik |
Ereignisfolge um eine Person mit wechselnden
Situationen und verschiedenen Beteiligten, oft unter Betonung neuer Erkenntnisse und Erfahrungen. |
Geschehen um wenige Personen und einen einzigen Konflikt,
in dem die Personen sich entweder bewähren oder scheitern. |
Gestaltung |
Reihung der Ereignisse mit wechselnden Höhepunkten,
nicht selten in einer Mischung von heiteren und ernsten Szenen. Beispiel: die Reise-Erzählung. |
Ausrichtung aller Szenen auf den einen Hauptkonflikt, der wie in einem
Drama entwickelt, seinem Höhepunkt zugeführt und am Ende gelöst wird. Einheitliche Stimmung durch die gesamte Handlung. |

Für alle Unterrichtssituationen sollte man aber nicht vergessen: wichtiger, als solche Merkmale nennen zu können, ist die Kenntnis der literarischen
Werke. Wer zwei oder drei Novellen und zwei oder drei Erzählungen gelesen hat, wird den Unterschied zwischen diesen beiden Textarten nicht nur wissen,
sondern ihn sogar aus eigener Erfahrung bestimmen können.
1) Schröder, Rolf: Novelle und Novellentheorie in der frühen Biedermeierzeit. Tübingen 1970.
2) Meyer, Reinhart: Novelle und Journal. Stuttgart 1987.
3) Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Gespräch vom 25. Januar 1827.
4) Paul Heyse: Einleitung zu 'Deutscher Novellenschatz', hrsg. v. P. Heyse und H. Kurz. München o.J. (1871); Bd. 1, S. V-XXIV.
5) In einem Brief an Eduard Alberti vom 12. März 1882 nennt Storm als Quelle eine private Äußerung
von K.G. von Leitner.
6) Theodor Storm: Eine zurückgezogene Vorrede aus dem Jahre 1881. In: Werke, Gesamtausgabe.
Hrsg. v. H. Engelhard. Stuttgart 1958. Bd. 3, S. 524-525.