Für F.
[Erster Abschnitt: Der Brief an den Freund]

Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg Bendeman, ein junger Kaufmann, saß in seinem
Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe,
fast nur in der Höhe und Färbung unterschieden, sich hinzogen. Er hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland
befindenden Jugendfreund beendet, verschloss ihn in spielerischer Langsamkeit und sah dann, den Ellbogen auf den
Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den Fluss, die Brücke und die Anhöhen am anderen Ufer mit
ihrem schwachen Grün.

Er dachte darüber nach, wie dieser Freund, mit seinem Fortkommen zu Hause unzufrieden,
vor Jahren schon nach Russland sich förmlich geflüchtet hatte. Nun betrieb er ein Geschäft in
Petersburg, das anfangs sich sehr gut angelassen hatte, seit Langem aber schon zu stocken schien, wie der Freund bei
seinen immer seltener werdenden Besuchen klagte. So arbeitete er sich in der Fremde nutzlos ab, der fremdartige
Vollbart verdeckte nur schlecht das seit den Kinderjahren wohlbekannte Gesicht, dessen gelbe Hautfarbe auf eine sich
entwickelnde Krankheit hinzudeuten schien. Wie er erzählte, hatte er keine rechte Verbindung mit der dortigen
Kolonie seiner Landsleute, aber auch fast keinen gesellschaftlichen Verkehr mit einheimischen Familien und richtete
sich so für ein endgültiges Junggesellentum ein.

Was sollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte, den man bedauern, dem man aber nicht
helfen konnte. Sollte man ihm vielleicht raten, wieder nach Hause zu kommen, seine Existenz hierher zu verlegen, alle
die alten freundschaftlichen Beziehungen wieder aufzunehmen - wofür ja kein Hindernis bestand - und im Übrigen
auf die Hilfe der Freunde zu vertrauen? Das bedeutete aber nichts anderes, als dass man ihm gleichzeitig, je
schonender, desto kränkender, sagte, dass seine bisherigen Versuche misslungen seien, dass er
endlich von ihnen ablassen solle, dass er zurückkehren und sich als ein für immer Zurückgekehrter
von allen mit großen Augen anstaunen lassen müsse, dass nur seine Freunde etwas verstünden und
dass er ein altes Kind sei, das den erfolgreichen, zu Hause gebliebenen Freunden
einfach zu folgen habe. Und war es dann noch sicher, dass alle die Plage, die man ihm antun müsste,
einen Zweck hätte? Vielleicht gelang es nicht einmal, ihn überhaupt nach Hause zu bringen - er sagte ja
selbst, dass er die Verhältnisse in der Heimat nicht mehr verstünde - und so bliebe er dann trotz
allem in seiner Fremde, verbittert durch die Ratschläge und den Freunden noch ein Stück mehr entfremdet.
Folgte er aber wirklich dem Rat und würde hier - natürlich nicht mit Absicht, aber durch die Tatsachen -
niedergedrückt, fände sich nicht in seinen Freunden und nicht ohne sie zurecht, litte an Beschämung,
hätte jetzt wirklich keine Heimat und keine Freunde mehr, war es da nicht viel besser für ihn, er blieb in
der Fremde, so wie er war? Konnte man denn bei solchen Umständen daran denken, dass er es hier tatsächlich
vorwärtsbringen würde?

Aus diesen Gründen konnte man ihm, wenn man überhaupt noch die briefliche Verbindung aufrecht erhalten wollte,
keine eigentlichen Mitteilungen
geben, wie man sie ohne Scheu auch den entferntesten Bekannten machen würde. Der Freund war nun schon über
drei Jahre nicht in der Heimat
gewesen und erklärte dies sehr notdürftig mit der Unsicherheit der politischen Verhältnisse in Russland,
die demnach also auch die
kürzeste Abwesenheit eines kleinen Geschäftsmannes nicht zuließen, während hunderttausende Russen
ruhig in der Welt herumfuhren.
Im Laufe dieser drei Jahre hatte sich aber gerade für Georg vieles verändert. Von dem Todesfall von
Georgs Mutter, der vor etwa zwei Jahren
erfolgt war und seit welchem Georg mit seinem alten Vater in gemeinsamer Wirtschaft lebte, hatte der Freund wohl
noch erfahren und sein Beileid in einem
Brief mit einer Trockenheit ausgedruckt, die ihren Grund nur darin haben konnte, dass die Trauer über ein
solches Ereignis in der Fremde ganz
unvorstellbar wird. Nun hatte aber Georg seit jener Zeit, so wie alles andere, auch sein Geschäft mit
größerer Entschlossenheit angepackt.
Vielleicht hatte ihn der Vater bei Lebzeiten der Mutter dadurch, dass er im Geschäft
nur seine Ansicht gelten lassen wollte, an einer wirklichen
eigenen Tätigkeit gehindert, vielleicht war der Vater seit dem Tode der Mutter, trotzdem er noch immer
im Geschäfte arbeitete,
zurückhaltender geworden, vielleicht spielten - was sogar sehr wahrscheinlich war - glückliche
Zufälle eine weit wichtigere Rolle,
jedenfalls aber hatte sich das Geschäft in diesen zwei Jahren ganz unerwartet entwickelt, das Personal hatte
man verdoppeln müssen,
der Umsatz sich verfünffacht, ein weiterer Fortschritt stand zweifellos bevor.

Der Freund aber hatte keine Ahnung von dieser Veränderung. Früher, zum letzten Mal vielleicht in
jenem Beileidsbrief, hatte er Georg zur
Auswanderung nach Russland überreden wollen und sich über die Aussichten verbreitet, die
gerade für Georgs Geschäftszweig
in Petersburg bestanden. Die Ziffern waren verschwindend gegenüber dem Umfang, den Georgs Geschäft
jetzt angenommen hatte. Georg
aber hatte keine Lust gehabt, dem Freund von seinen geschäftlichen Erfolgen zu schreiben, und jetzt nachträglich
hätte es wirklich einen merkwürdigen Anschein gehabt.

So beschränkte sich Georg darauf, dem Freund immer nur über bedeutungslose Vorfälle zu schreiben,
wie sie sich, wenn man an einem ruhigen Sonntag nachdenkt, in der Erinnerung ungeordnet aufhäufen. Er wollte
nichts anderes, als die Vorstellung ungestört lassen, die sich der Freund von der Heimatstadt in der langen
Zwischenzeit wohl gemacht und mit welcher er sich abgefunden hatte. So geschah es Georg, dass er dem Freund
die Verlobung eines gleichgültigen Menschen mit einem ebenso gleichgültigen Mädchen dreimal in ziemlich
weit auseinanderliegenden Briefen anzeigte, bis sich dann allerdings der Freund, ganz gegen Georgs Absicht, für
diese Merkwürdigkeit zu interessieren begann.

Georg schrieb ihm aber solche Dinge viel lieber, als dass er zugestanden hätte, dass er selbst
vor einem Monat mit einem Fräulein Frieda Brandenfeld, einem Mädchen aus wohlhabender Familie, sich
verlobt hatte. Oft sprach er mit seiner Braut über diesen Freund und das besondere Korrespondenzverhältnis,
in welchem er zu ihm stand. »Da wird er gar nicht zu unserer Hochzeit kommen«, sagte sie, »und
ich habe doch das Recht, alle deine Freunde kennen zu lernen.« »Ich will ihn nicht stören«,
antwortete Georg, »verstehe mich recht, er würde wahrscheinlich kommen, wenigstens glaube ich es, aber er
würde sich gezwungen und geschädigt fühlen, vielleicht mich beneiden und sicher unzufrieden und
unfähig, diese Unzufriedenheit jemals zu beseitigen, allein wieder zurückfahren. Allein - weißt
du, was das ist?« »Ja, kann er denn von unserer Heirat nicht auch auf andere Weise erfahren?«
»Das kann ich allerdings nicht verhindern, aber es ist bei seiner Lebensweise unwahrscheinlich.«
»Wenn du solche Freunde hast, Georg, hättest du dich überhaupt nicht verloben sollen.«
»Ja, das ist unser beider Schuld; aber ich wollte es auch jetzt nicht anders haben.« Und wenn sie
dann, rasch atmend unter seinen Küssen, noch vorbrachte: »Eigentlich kränkt es mich doch«,
hielt er es wirklich für unverfänglich, dem Freund alles zu schreiben. »So bin ich und so hat
er mich hinzunehmen«, sagte er sich, »ich kann nicht aus mir einen Menschen herausschneiden, der
vielleicht für die Freundschaft mit ihm geeigneter wäre, als ich es bin.«

Und tatsächlich berichtete er seinem Freunde in dem langen Brief, den er an diesem Sonntagvormittag schrieb,
die erfolgte Verlobung mit folgenden Worten: »Die beste Neuigkeit habe ich mir bis zum Schluss aufgespart.
Ich habe mich mit einem Fräulein Frieda Brandenfeld verlobt, einem Mädchen aus einer wohlhabenden Familie, die
sich hier erst lange nach Deiner Abreise angesiedelt hat, die Du also kaum kennen dürftest. Es wird sich noch
Gelegenheit finden, Dir Näheres über meine Braut mitzuteilen, heute genüge Dir, dass ich recht
glücklich bin und dass sich in unserem gegenseitigem Verhältnis nur insofern etwas geändert hat,
als Du jetzt in mir statt eines ganz gewöhnlichen Freundes einen glücklichen Freund haben wirst. Außerdem
bekommst Du in meiner Braut, die Dich herzlich grüßen lässt und die Dir nächstens selbst
schreiben wird, eine aufrichtige Freundin, was für einen Junggesellen nicht ganz ohne Bedeutung ist. Ich
weiß, es hält Dich vielerlei von einem Besuche bei uns zurück, wäre aber nicht gerade meine
Hochzeit die richtige Gelegenheit, einmal alle Hindernisse über den Haufen zu werfen? Aber wie dies auch sein
mag, handle ohne alle Rücksicht und nur nach Deiner Wohlmeinung.«

Mit diesem Brief in der Hand war Georg lange, das Gesicht dem Fenster zugekehrt, an seinem Schreibtisch gesessen.
Einem Bekannten, der ihn im Vorübergehen von der Gasse aus gegrüßt hatte, hatte er kaum mit einem
abwesenden Lächeln geantwortet.
[Zweiter Abschnitt: Das Gespräch mit dem Vater]

Endlich steckte er den Brief in die Tasche und ging aus seinem Zimmer quer durch einen kleinen Gang in das
Zimmer seines Vaters, in dem er schon seit
Monaten nicht gewesen war. Es bestand auch sonst keine Nötigung dazu, denn er verkehrte mit seinem Vater
ständig im Geschäft, das
Mittagessen nahmen sie gleichzeitig in einem Speisehaus ein, abends versorgte sich zwar jeder nach Belieben,
doch saßen sie dann noch ein Weilchen,
meistens jeder mit seiner Zeitung, im gemeinsamen Wohnzimmer, wenn nicht Georg, wie es am häufigsten
geschah, mit Freunden beisammen war
oder jetzt seine Braut besuchte.

Georg staunte darüber, wie dunkel das Zimmer des Vaters selbst an diesem sonnigen Vormittag war. Einen solchen
Schatten warf also die hohe Mauer, die sich jenseits des schmalen Hofes erhob. Der Vater saß beim Fenster in
einer Ecke, die mit verschiedenen Andenken an die selige Mutter ausgeschmückt war, und las die Zeitung,
die er seitlich vor die Augen hielt, wodurch er irgendeine Augenschwäche auszugleichen suchte. Auf dem
Tisch standen die Reste des Frühstücks, von dem nicht viel verzehrt zu sein schien.

»Ah, Georg!«, sagte der Vater und ging ihm gleich entgegen. Sein schwerer Schlafrock öffnete
sich im Gehen, die Enden umflatterten ihn - »mein Vater ist noch immer ein Riese«, dachte sich Georg.

»Hier ist es ja unerträglich dunkel«, sagte er dann.

»Ja, dunkel ist es schon«, antwortete der Vater.

»Das Fenster hast du auch geschlossen?«

»Ich habe es lieber so.«

»Es ist ja ganz warm draußen«, sagte Georg, wie im Nachhang zu dem Früheren, und setzte sich.

Der Vater räumte das Frühstücksgeschirr ab und stellte es auf einen Kasten.

»Ich wollte dir eigentlich nur sagen«, fuhr Georg fort, der den Bewegungen des alten Mannes
ganz verloren folgte, »dass ich nun doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe.«
Er zog den Brief ein wenig aus der Tasche und ließ ihn wieder zurückfallen.

»Nach Petersburg?«, fragte der Vater.

»Meinem Freunde doch«, sagte Georg und suchte des Vaters Augen - »Im Geschäft ist
er doch ganz anders«, dachte er, »wie er hier breit sitzt und die Arme über der Brust
kreuzt.«

»Ja. Deinem Freunde«, sagte der Vater mit Betonung.

»Du weißt doch, Vater, dass ich ihm meine Verlobung zuerst verschweigen wollte. Aus
Rücksichtnahme, aus keinem anderen Grunde sonst. Du weißt selbst, er ist ein schwieriger Mensch.
Ich sagte mir, von anderer Seite kann er von meiner Verlobung wohl erfahren, wenn das auch bei seiner
einsamen Lebensweise kaum wahrscheinlich ist - das kann ich nicht hindern -, aber von mir selbst soll er es
nun einmal nicht erfahren.«

»Und jetzt hast du es dir wieder anders überlegt?«, fragte der Vater, legte die große
Zeitung auf den Fensterbord und auf die Zeitung die Brille, die er mit der Hand bedeckte.

»Ja, jetzt habe ich es mir wieder überlegt. Wenn er mein guter Freund ist, sagte ich mir, dann ist meine
glückliche Verlobung auch für ihn ein Glück. Und deshalb habe ich nicht mehr gezögert, es ihm
anzuzeigen. Ehe ich jedoch den Brief einwarf, wollte ich es dir sagen.«

»Georg«, sagte der Vater und zog den zahnlosen Mund in die Breite »hör' einmal! Du bist wegen
dieser Sache zu mir gekommen,
um dich mit mir zu beraten. Das ehrt dich ohne Zweifel. Aber es ist nichts, es ist ärger als nichts, wenn du
mir jetzt nicht die
volle Wahrheit sagst. Ich will nicht Dinge aufrühren, die nicht hierher gehören. Seit dem Tode unserer
teueren Mutter sind
gewisse unschöne Dinge vorgegangen. Vielleicht kommt auch für sie die Zeit und vielleicht kommt sie
früher, als wir denken.
Im Geschäft entgeht mir manches, es wird mir vielleicht nicht verborgen - ich will jetzt gar nicht die
Annahme machen, dass es mir
verborgen wird -, ich bin nicht mehr kräftig genug, mein Gedächtnis lässt nach, ich habe
nicht mehr den Blick für
alle die vielen Sachen. Das ist erstens der Ablauf der Natur, und zweitens hat mich der Tod unseres Mütterchens
viel mehr
niedergeschlagen als dich. - Aber weil wir gerade bei dieser Sache sind, bei diesem Brief, so bitte ich dich, Georg,
täusche mich nicht.
Es ist eine Kleinigkeit, es ist nicht des Atems wert, also täusche mich nicht. Hast du wirklich diesen Freund
in Petersburg?«
[Dritter Abschnitt: Die Verwandlung des Vaters]

Georg stand verlegen auf. »Lassen wir meine Freunde sein. Tausend Freunde ersetzen mir nicht meinen Vater.
Weißt du, was ich glaube?
Du schonst dich nicht genug. Aber das Alter verlangt seine Rechte. Du bist mir im Geschäft unentbehrlich,
das weißt du ja sehr genau,
aber wenn das Geschäft deine Gesundheit bedrohen sollte, sperre ich es noch morgen für immer. Das geht
nicht. Wir müssen
da eine andere Lebensweise für dich einführen. Aber von Grund aus. Du sitzt hier im Dunkel und im Wohnzimmer
hättest du
schönes Licht. Du nippst vom Frühstück, statt dich ordentlich zu stärken. Du sitzt bei geschlossenem
Fenster und die Luft würde dir so gut tun. Nein, Vater! Ich werde den Arzt holen und seine Vorschriften
werden wir befolgen.
Die Zimmer werden wir wechseln, du wirst ins Vorderzimmer ziehen, ich hierher. Es wird keine Veränderung
für dich sein, alles
wird mit hinübergetragen. Aber das alles hat Zeit, jetzt lege dich noch ein wenig ins Bett, du brauchst
unbedingt Ruhe. Komm, ich
werde dir beim Ausziehn helfen, du wirst sehn, ich kann es. Oder willst du gleich ins Vorderzimmer gehn, dann
legst du dich vorläufig
in mein Bett. Das wäre übrigens sehr vernünftig.«

Georg stand knapp neben seinem Vater, der den Kopf mit dem struppigen weißen Haar auf die Brust hatte sinken lassen.

»Georg«, sagte der Vater leise, ohne Bewegung.

Georg kniete sofort neben dem Vater nieder, er sah die Pupillen in dem milden Gesicht des Vaters übergroß in
den Winkeln der Augen auf sich gerichtet.

»Du hast keinen Freund in Petersburg. Du bist immer ein Spaßmacher gewesen und hast dich auch
mir gegenüber nicht zurückgehalten. Wie solltest du denn gerade dort einen Freund haben! Das kann ich
gar nicht glauben.«

»Denk doch noch einmal nach, Vater«, sagte Georg, hob den Vater vom Sessel und zog ihm, wie er nun
doch recht schwach dastand, den Schlafrock aus, »jetzt wird es bald drei Jahre her sein, da war ja
mein Freund bei uns zu Besuch. Ich erinnere mich noch, dass du ihn nicht besonders gern hattest.
Wenigstens zweimal habe ich ihn vor dir verleugnet, trotzdem er gerade bei mir im Zimmer saß. Ich
konnte ja deine Abneigung gegen ihn ganz gut verstehn, mein Freund hat seine Eigentümlichkeiten.
Aber dann hast du dich doch auch wieder ganz gut mit ihm unterhalten. Ich war damals noch so stolz darauf,
dass du ihm zuhörtest, nicktest und fragtest. Wenn du nachdenkst, musst du dich erinnern.
Er erzählte damals unglaubliche Geschichten von der russischen Revolution. Wie er z. B. auf einer
Geschäftsreise in Kiew bei einem Tumult einen Geistlichen auf einem Balkon gesehen hatte, der sich
ein breites Blutkreuz in die flache Hand schnitt, diese Hand erhob und die Menge anrief. Du hast ja selbst
diese Geschichte hier und da wiedererzählt.«

Währenddessen war es Georg gelungen, den Vater wieder niederzusetzen und ihm die Trikothose, die er über
den Leinenunterhosen trug,
sowie die Socken vorsichtig auszuziehn. Beim Anblick der nicht besonders reinen Wäsche machte er sich
Vorwürfe, den Vater
vernachlässigt zu haben. Es wäre sicherlich auch seine Pflicht gewesen, über den Wäschewechsel
seines Vaters zu
wachen. Er hatte mit seiner Braut darüber noch nicht ausdrücklich gesprochen, wie sie die Zukunft des
Vaters einrichten wollten, aber sie
hatten stillschweigend vorausgesetzt, dass der Vater allein in der alten Wohnung bleiben würde. Doch
jetzt entschloss er sich kurz mit aller Bestimmtheit, den Vater in seinen künftigen Haushalt mitzunehmen.
Es schien ja fast, wenn man genauer zusah, dass die Pflege, die dort dem Vater bereitet werden sollte, zu
spät kommen könnte.

Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett. Ein schreckliches Gefühl hatte er, als er während der paar
Schritte zum Bett hin merkte, dass an seiner Brust der Vater mit seiner Uhrkette spielte. Er konnte ihn nicht
gleich ins Bett legen, so fest hielt er sich an dieser Uhrkette.

Kaum war er aber im Bett, schien alles gut. Er deckte sich selbst zu und zog dann die Bettdecke noch besonders
weit über die Schulter. Er sah nicht unfreundlich zu Georg hinauf.

»Nicht wahr, du erinnerst dich schon an ihn?«, fragte Georg und nickte ihm aufmunternd zu.

»Bin ich jetzt gut zugedeckt?«, fragte der Vater, als könne er nicht nachschauen, ob die
Füße genug bedeckt seien.

»Es gefällt dir also schon im Bett«, sagte Georg und legte das Deckzeug besser um ihn.

»Bin ich gut zugedeckt?«, fragte der Vater noch einmal und schien auf die Antwort besonders aufzupassen.

»Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt.«

»Nein!«, rief der Vater, dass die Antwort an die Frage stieß, warf die Decke zurück
mit einer Kraft, dass sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand aufrecht im Bett.
Nur eine Hand hielt er leicht an den Plafond. »Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein
Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug für dich,
zu viel für dich. Wohl kenne ich deinen Freund. Er wäre ein Sohn nach meinem Herzen. Darum hast du
ihn auch betrogen die ganzen Jahre lang. Warum sonst? Glaubst du, ich habe nicht um ihn geweint? Darum doch
sperrst du dich in dein Bureau, niemand soll stören, der Chef ist beschäftigt - nur damit du deine
falschen Briefchen nach Russland schreiben kannst. Aber den Vater muss glücklicherweise niemand
lehren, den Sohn zu durchschauen. Wie du jetzt geglaubt hast, du hättest ihn untergekriegt, so untergekriegt,
dass du dich mit deinem Hintern auf ihn setzen kannst und er rührt sich nicht, da hat sich mein Herr
Sohn zum Heiraten entschlossen!«
[Vierter Abschnitt: Die Verurteilung durch den Vater]

Georg sah zum Schreckbild seines Vaters auf. Der Petersburger Freund, den der Vater plötzlich so gut kannte,
ergriff ihn, wie noch nie. Verloren
im weiten Russland sah er ihn. An der Türe des leeren, ausgeraubten Geschäftes sah er ihn. Zwischen
den Trümmern der Regale, den zerfetzten Waren, den fallenden Gasarmen stand er gerade noch. Warum hatte er
so weit wegfahren müssen!

»Aber schau mich an!«, rief der Vater, und Georg lief, fast zerstreut, zum Bett, um alles zu fassen,
stockte aber in der Mitte des Weges.

»Weil sie die Röcke gehoben hat«, fing der Vater zu flöten an, »weil sie die Röcke so
gehoben hat, die
widerliche Gans«, und er hob, um das darzustellen, sein Hemd so hoch, dass man auf seinem Oberschenkel die
Narbe aus seinen
Kriegsjahren sah, »weil sie die Röcke so und so und so gehoben hat, hast du dich an sie herangemacht, und
damit du an ihr
ohne Störung dich befriedigen kannst, hast du unserer Mutter Andenken geschändet, den Freund verraten und
deinen Vater ins
Bett gesteckt, damit er sich nicht rühren kann. Aber kann er sich rühren oder nicht?« Und er stand
vollkommen frei und warf
die Beine. Er strahlte vor Einsicht.

Georg stand in einem Winkel, möglichst weit vom Vater. Vor einer langen Weile hatte er sich fest entschlossen,
alles vollkommen
genau zu beobachten, damit er nicht irgendwie auf Umwegen, von hinten her, von oben herab überrascht werden
könne. Jetzt
erinnerte er sich wieder an den längst vergessenen Entschluss und vergaß ihn, wie man einen kurzen
Faden durch ein Nadelöhr zieht.

»Aber der Freund ist nun doch nicht verraten!«, rief der Vater, und sein hin- und herbewegter Zeigefinger
bekräftigte es.
»Ich war sein Vertreter hier am Ort.«

»Komödiant!«, konnte sich Georg zu rufen nicht enthalten, erkannte sofort den Schaden und
biss, nur zu spät, - die
Augen erstarrt - in seine Zunge, dass er vor Schmerz einknickte.

»Ja, freilich habe ich Komödie gespielt! Komödie! Gutes Wort! Welcher andere Trost blieb dem
alten verwitweten Vater? Sag -
und für den Augenblick der Antwort sei du noch mein lebender Sohn - , was blieb mir übrig, in
meinem Hinterzimmer, verfolgt vom
ungetreuen Personal, alt bis in die Knochen? Und mein Sohn ging im Jubel durch die Welt, schloss
Geschäfte ab, die ich vorbereitet hatte,
überpurzelte sich vor Vergnügen und ging vor seinem Vater mit dem verschlossenen Gesicht eines
Ehrenmannes davon! Glaubst du,
ich hätte dich nicht geliebt, ich, von dem du ausgingst?«

»Jetzt wird er sich vorbeugen«, dachte Georg, »wenn er fiele und zerschmetterte!« Dieses
Wort durchzischte seinen Kopf.

Der Vater beugte sich vor, fiel aber nicht. Da Georg sich nicht näherte, wie er erwartet hatte, erhob er sich wieder.

»Bleib, wo du bist, ich brauche dich nicht! Du denkst, du hast noch die Kraft, hierher zu kommen und hältst
dich bloß
zurück, weil du so willst. Dass du dich nicht irrst! Ich bin noch immer der viel Stärkere. Allein
hätte ich vielleicht
zurückweichen müssen, aber so hat mir die Mutter ihre Kraft abgegeben, mit deinem Freund habe ich mich
herrlich verbunden,
deine Kundschaft habe ich hier in der Tasche!«

»Sogar im Hemd hat er Taschen!«, sagte sich Georg und glaubte, er könne ihn mit dieser Bemerkung in der ganzen
Welt unmöglich machen. Nur einen Augenblick dachte er das, denn immerfort vergaß er alles.

»Häng dich nur in deine Braut ein und komm mir entgegen! Ich fege sie dir von der Seite weg, du
weißt nicht wie!«

Georg machte Grimassen, als glaube er das nicht. Der Vater nickte bloß, die Wahrheit dessen beteuernd,
was er sagte, in Georgs Ecke hin.

»Wie hast du mich doch heute unterhalten, als du kamst und fragtest, ob du deinem Freund von der Verlobung
schreiben sollst. Er
weiß doch alles, dummer Junge, er weiß doch alles! Ich schrieb ihm doch, weil du vergessen hast,
mir das Schreibzeug wegzunehmen.
Darum kommt er schon seit Jahren nicht, er weiß ja alles hundertmal besser als du selbst, deine Briefe
zerknüllt er ungelesen
in der linken Hand, während er in der Rechten meine Briefe zum Lesen sich vorhält!«

Seinen Arm schwang er vor Begeisterung über dem Kopf. »Er weiß alles tausendmal besser!«, rief er.

»Zehntausendmal!«, sagte Georg, um den Vater zu verlachen, aber noch in seinem Munde bekam das Wort einen
todernsten Klang.

»Seit Jahren passe ich schon auf, dass du mit dieser Frage kämest! Glaubst du, mich kümmert etwas
anderes? Glaubst
du, ich lese Zeitungen? Da!«, und er warf Georg ein Zeitungsblatt, das irgendwie mit ins Bett getragen worden war,
zu. Eine alte Zeitung,
mit einem Georg schon ganz unbekannten Namen.

»Wie lange hast du gezögert, ehe du reif geworden bist! Die Mutter musste sterben, sie konnte den Freudentag nicht
erleben, der Freund geht zugrunde in seinem Russland, schon vor drei Jahren war er gelb zum Wegwerfen, und ich, du siehst ja,
wie es mit mir steht. Dafür hast du doch Augen!«

»Du hast mir also aufgelauert!«, rief Georg.

Mitleidig sagte der Vater nebenbei: »Das wolltest du wahrscheinlich früher sagen. Jetzt passt es
ja gar nicht mehr.«

Und lauter: »Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wusstest du nur von dir!
Ein unschuldiges Kind warst
du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! - Und darum wisse: Ich verurteile dich
jetzt zum Tode des Ertrinkens!«

Georg fühlte sich aus dem Zimmer gejagt, den Schlag, mit dem der Vater hinter ihm aufs Bett stürzte, trug er
noch in den Ohren davon.
Auf der Treppe, über deren Stufen er wie über eine schiefe Fläche eilte, überrumpelte er seine
Bedienerin, die im Begriffe
war hinaufzugehen, um die Wohnung nach der Nacht aufzuräumen.

»Jesus!« rief sie und verdeckte mit der Schürze das Gesicht, aber er war schon davon. Aus dem Tor
sprang er, über die
Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung. Er schwang
sich über, als der
ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Noch hielt er sich mit
schwächer werdenden
Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen
Fall übertönen
würde, rief leise: »Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt«, und ließ sich hinabfallen.

In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.