[Vierter Abschnitt: Die Verurteilung durch den Vater]

Georg sah zum Schreckbild seines Vaters auf. Der Petersburger Freund, den der Vater plötzlich so gut kannte,
ergriff ihn wie noch nie. Verloren im weiten Russland sah er ihn. An der Türe des leeren, ausgeraubten Geschäftes sah er ihn. Zwischen
den Trümmern der Regale, den zerfetzten Waren, den fallenden Gasarmen stand er gerade noch. Warum hatte er
so weit wegfahren müssen!

»Aber schau mich an!«, rief der Vater, und Georg lief, fast zerstreut, zum Bett, um alles zu fassen,
stockte aber in der Mitte des Weges.

»Weil sie die Röcke gehoben hat«, fing der Vater zu flöten an, »weil sie die Röcke so
gehoben hat, die
widerliche Gans«, und er hob, um das darzustellen, sein Hemd so hoch, dass man auf seinem Oberschenkel die
Narbe aus seinen
Kriegsjahren sah, »weil sie die Röcke so und so und so gehoben hat, hast du dich an sie herangemacht, und
damit du an ihr
ohne Störung dich befriedigen kannst, hast du unserer Mutter Andenken geschändet, den Freund verraten und
deinen Vater ins
Bett gesteckt, damit er sich nicht rühren kann. Aber kann er sich rühren oder nicht?« Und er stand
vollkommen frei und warf die Beine. Er strahlte vor Einsicht.

Georg stand in einem Winkel, möglichst weit vom Vater. Vor einer langen Weile hatte er sich fest entschlossen,
alles vollkommen
genau zu beobachten, damit er nicht irgendwie auf Umwegen, von hinten her, von oben herab überrascht werden
könne. Jetzt
erinnerte er sich wieder an den längst vergessenen Entschluss und vergaß ihn, wie man einen kurzen
Faden durch ein Nadelöhr zieht.

»Aber der Freund ist nun doch nicht verraten!«, rief der Vater, und sein hin- und herbewegter Zeigefinger
bekräftigte es.
»Ich war sein Vertreter hier am Ort.«

»Komödiant!«, konnte sich Georg zu rufen nicht enthalten, erkannte sofort den Schaden und
biss, nur zu spät, - die Augen erstarrt - in seine Zunge, dass er vor Schmerz einknickte.

»Ja, freilich habe ich Komödie gespielt! Komödie! Gutes Wort! Welcher andere Trost blieb dem
alten verwitweten Vater? Sag -
und für den Augenblick der Antwort sei du noch mein lebender Sohn - , was blieb mir übrig, in
meinem Hinterzimmer, verfolgt vom
ungetreuen Personal, alt bis in die Knochen? Und mein Sohn ging im Jubel durch die Welt, schloss
Geschäfte ab, die ich vorbereitet hatte,
überpurzelte sich vor Vergnügen und ging vor seinem Vater mit dem verschlossenen Gesicht eines
Ehrenmannes davon! Glaubst du,
ich hätte dich nicht geliebt, ich, von dem du ausgingst?«

»Jetzt wird er sich vorbeugen«, dachte Georg, »wenn er fiele und zerschmetterte!« Dieses
Wort durchzischte seinen Kopf.

Der Vater beugte sich vor, fiel aber nicht. Da Georg sich nicht näherte, wie er erwartet hatte, erhob er sich wieder.

»Bleib, wo du bist, ich brauche dich nicht! Du denkst, du hast noch die Kraft, hierher zu kommen und hältst
dich bloß
zurück, weil du so willst. Dass du dich nicht irrst! Ich bin noch immer der viel Stärkere. Allein
hätte ich vielleicht
zurückweichen müssen, aber so hat mir die Mutter ihre Kraft abgegeben, mit deinem Freund habe ich mich
herrlich verbunden,
deine Kundschaft habe ich hier in der Tasche!«

»Sogar im Hemd hat er Taschen!«, sagte sich Georg und glaubte, er könne ihn mit dieser Bemerkung in der ganzen
Welt unmöglich machen. Nur einen Augenblick dachte er das, denn immerfort vergaß er alles.

»Häng dich nur in deine Braut ein und komm mir entgegen! Ich fege sie dir von der Seite weg, du
weißt nicht wie!«

Georg machte Grimassen, als glaube er das nicht. Der Vater nickte bloß, die Wahrheit dessen beteuernd,
was er sagte, in Georgs Ecke hin.

»Wie hast du mich doch heute unterhalten, als du kamst und fragtest, ob du deinem Freund von der Verlobung
schreiben sollst. Er
weiß doch alles, dummer Junge, er weiß doch alles! Ich schrieb ihm doch, weil du vergessen hast,
mir das Schreibzeug wegzunehmen.
Darum kommt er schon seit Jahren nicht, er weiß ja alles hundertmal besser als du selbst, deine Briefe
zerknüllt er ungelesen
in der linken Hand, während er in der Rechten meine Briefe zum Lesen sich vorhält!«

Seinen Arm schwang er vor Begeisterung über dem Kopf. »Er weiß alles tausendmal besser!«, rief er.

»Zehntausendmal!«, sagte Georg, um den Vater zu verlachen, aber noch in seinem Munde bekam das Wort einen
todernsten Klang.

»Seit Jahren passe ich schon auf, dass du mit dieser Frage kämest! Glaubst du, mich kümmert etwas
anderes? Glaubst
du, ich lese Zeitungen? Da!«, und er warf Georg ein Zeitungsblatt, das irgendwie mit ins Bett getragen worden war,
zu. Eine alte Zeitung,
mit einem Georg schon ganz unbekannten Namen.

»Wie lange hast du gezögert, ehe du reif geworden bist! Die Mutter musste sterben, sie konnte den Freudentag nicht
erleben, der Freund geht zugrunde in seinem Russland, schon vor drei Jahren war er gelb zum Wegwerfen, und ich, du siehst ja,
wie es mit mir steht. Dafür hast du doch Augen!«

»Du hast mir also aufgelauert!«, rief Georg.

Mitleidig sagte der Vater nebenbei: »Das wolltest du wahrscheinlich früher sagen. Jetzt passt es
ja gar nicht mehr.«

Und lauter: »Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wusstest du nur von dir!
Ein unschuldiges Kind warst
du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! - Und darum wisse: Ich verurteile dich
jetzt zum Tode des Ertrinkens!«

Georg fühlte sich aus dem Zimmer gejagt, den Schlag, mit dem der Vater hinter ihm aufs Bett stürzte, trug er
noch in den Ohren davon.
Auf der Treppe, über deren Stufen er wie über eine schiefe Fläche eilte, überrumpelte er seine
Bedienerin, die im Begriffe
war hinaufzugehen, um die Wohnung nach der Nacht aufzuräumen.

»Jesus!« rief sie und verdeckte mit der Schürze das Gesicht, aber er war schon davon. Aus dem Tor
sprang er, über die
Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung. Er schwang
sich über, als der
ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Noch hielt er sich mit
schwächer werdenden
Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen
Fall übertönen
würde, rief leise: »Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt«, und ließ sich hinabfallen.

In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.