Thomas Mann: "Tristan" (1903) Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
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Ein Kauz, ein ganz wunderlicher Kauz! Herrn Klöterjahns Gattin dachte zuweilen nach über ihn, denn sie hatte sehr viele Zeit zum Nachdenken. Sei es, dass der Luftwechsel anfing, die Wirkung zu versagen, oder dass irgendein positiv schädlicher Einfluss sie berührt hatte: Ihr Befinden war schlechter geworden, der Zustand ihrer Luftröhre schien zu wünschen übrigzulassen, sie fühlte sich schwach, müde, appetitlos, fieberte nicht selten; und Doktor Leander hatte ihr aufs entschiedenste Ruhe, Stillverhalten und Vorsicht empfohlen. So saß sie, wenn sie nicht liegen musste, in Gesellschaft der Rätin Spatz, verhielt sich still und hing, eine Handarbeit im Schoße, an der sie nicht arbeitete, diesem oder jenem Gedanken nach.
Ja, er machte ihr Gedanken, dieser absonderliche Herr Spinell, und, was das Merkwürdige war, nicht sowohl über seine als über ihre eigene Person; auf irgendeine Weise rief er in ihr eine seltsame Neugier, ein nie gekanntes Interesse für ihr eigenes Sein hervor. Eines Tages hatte er gesprächsweise geäußert:
»Nein, es sind rätselvolle Tatsachen, die Frauen ... sowenig neu es ist, sowenig kann man ablassen, davor zu stehen und zu staunen. Da ist ein wunderbares Geschöpf, eine Sylphe, ein Duftgebild, ein Märchentraum von einem Wesen. Was tut sie? Sie geht hin und ergibt sich einem Jahrmarktsherkules oder Schlächterburschen. Sie kommt an seinem Arme daher, lehnt vielleicht sogar ihren Kopf an seine Schulter und blickt dabei verschlagen lächelnd um sich her, als wollte sie sagen: Ja, nun zerbrecht euch die Köpfe über diese Erscheinung! - Und wir zerbrechen sie uns.« -
Hiermit hatte Herrn Klöterjahns Gattin sich wiederholt beschäftigt.
Eines anderen Tages fand zum Erstaunen der Rätin Spatz folgendes Zwiegespräch zwischen ihnen statt.
»Darf ich einmal fragen, gnädige Frau (aber es ist wohl naseweis), wie Sie heißen, wie eigentlich Ihr Name ist?«
»Ich heiße doch Klöterjahn, Herr Spinell!«
»Hm. - Das weiß ich. Oder vielmehr: ich leugne es. Ich meine natürlich Ihren eigenen Namen, Ihren Mädchennamen. Sie werden gerecht sein und einräumen, gnädige Frau, dass, wer Sie 'Frau Klöterjahn' nennen wollte, die Peitsche verdiente.«
Sie lachte so herzlich, dass das blaue Äderchen über ihrer Braue beängstigend deutlich hervortrat und ihrem zarten, süßen Gesicht einen Ausdruck von Anstrengung und Bedrängnis verlieh, der tief beunruhigte.
»Nein! Bewahre, Herr Spinell! Die Peitsche? Ist 'Klöterjahn' Ihnen so fürchterlich?«
»Ja, gnädige Frau, ich hasse diesen Namen aus Herzensgrund, seit ich ihn zum ersten Mal vernahm. Er ist komisch und zum Verzweifeln unschön, und es ist Barbarei und Niedertracht, wenn man die Sitte so weit treibt, auf Sie den Namen Ihres Herrn Gemahls zu übertragen.«
»Nun, und 'Eckhof'? Ist Eckhof schöner? Mein Vater heißt Eckhof.«
»Oh, sehen Sie! 'Eckhof' ist etwas ganz anderes! Eckhof hieß sogar ein großer Schauspieler. Eckhof passiert. - Sie erwähnten nur Ihres Vaters. Ist Ihre Frau Mutter ... «
»Ja; meine Mutter starb, als ich noch klein war.«
»Ah. - Sprechen Sie mir doch ein wenig mehr von Ihnen, darf ich Sie bitten? Wenn es Sie ermüdet, dann nicht. Dann ruhen Sie, und ich fahre fort, Ihnen von Paris zu erzählen, wie neulich. Aber Sie könnten ja ganz leise reden, ja, wenn Sie flüstern, so wird das alles nur schöner machen ... Sie wurden in Bremen geboren?« Und diese Frage tat er beinahe tonlos, mit einem ehrfurchtsvollen und inhaltsschweren Ausdruck, als sei Bremen eine Stadt ohnegleichen, eine Stadt voller unnennbarer Abenteuer und verschwiegener Schönheiten, in der geboren zu sein eine geheimnisvolle Hoheit verleihe.
»Ja, denken Sie!«, sagte sie unwillkürlich. »Ich bin aus Bremen.«
»Ich war einmal dort«, bemerkte er nachdenklich. -
»Mein Gott, Sie waren auch dort? Nein, hören Sie, Herr Spinell, zwischen Tunis und Spitzbergen haben Sie, glaube ich, alles gesehen!«
»Ja, ich war einmal dort«, wiederholte er. »Ein paar kurze Abendstunden. Ich entsinne mich einer alten, schmalen Straße, über deren Giebeln schief und seltsam der Mond stand. Dann war ich in einem Keller, in dem es nach Wein und Moder roch. Das ist eine durchdringende Erinnerung ...«
»Wirklich? Wo mag das gewesen sein? - Ja, in solchem grauen Giebelhause, einem alten Kaufmannshause mit hallender Diele und weißlackierter Galerie, bin ich geboren.«
»Ihr Herr Vater ist also Kaufmann?«, fragte er ein wenig zögernd.
»Ja. Aber außerdem und eigentlich wohl in erster Linie ist er ein Künstler. «
»Ah! Ah! Inwiefern?«
»Er spielt die Geige ... Aber das sagt nicht viel. Wie er sie spielt, Herr Spinell, das ist die Sache! Einige Töne habe ich niemals hören können, ohne dass mir die Tränen so merkwürdig brennend in die Augen stiegen, wie sonst bei keinem Erlebnis. Sie glauben es nicht ... «
»Ich glaube es! Ach, ob ich es glaube! ... Sagen Sie mir, gnädige Frau: Ihre Familie ist wohl alt? Es haben wohl schon viele Generationen in dem grauen Giebelhaus gelebt, gearbeitet und das Zeitliche gesegnet? «
»Ja. - Warum fragen Sie übrigens?«
»Weil es nicht selten geschieht, dass ein Geschlecht mit praktischen, bürgerlichen und trockenen Traditionen sich gegen das Ende seiner Tage noch einmal durch die Kunst verklärt.«
»Ist dem so? - Ja, was meinen Vater betrifft, so ist er sicherlich mehr ein Künstler als mancher, der sich so nennt und vom Ruhme lebt. Ich spiele nur ein bisschen Klavier. Jetzt haben sie es mir ja verboten; aber damals, zu Hause, spielte ich noch. Mein Vater und ich, wir spielten zusammen ... Ja, ich habe all die Jahre in lieber Erinnerung; besonders den Garten, unseren Garten, hinterm Hause. Er war jämmerlich verwildert und verwuchert und von zerbröckelten, bemoosten Mauern eingeschlossen; aber gerade das gab ihm viel Reiz. In der Mitte war ein Springbrunnen, mit einem dichten Kranz von Schwertlilien umgeben. Im Sommer verbrachte ich dort lange Stunden mit meinen Freundinnen. Wir saßen alle auf kleinen Feldsesseln rund um den Springbrunnen herum ... «
»Wie schön!«, sagte Herr Spinell und zog die Schultern empor. »Saßen Sie und sangen?«
»Nein, wir häkelten meistens.«
»Immerhin ... Immerhin ...«
»Ja, wir häkelten und schwatzten, meine sechs Freundinnen und ich ...«
»Wie schön! Gott, hören Sie, wie schön!«, rief Herr Spinell, und sein Gesicht war gänzlich verzerrt.
»Was finden Sie nun hieran so besonders schön, Herr Spinell!«
»Oh, dies, dass es sechs außer Ihnen waren, dass Sie nicht in diese Zahl eingeschlossen waren, sondern dass Sie gleichsam als Königin daraus hervortraten ... Sie waren ausgezeichnet vor Ihren sechs Freundinnen. Eine kleine goldene Krone, ganz unscheinbar, aber bedeutungsvoll, saß in Ihrem Haar und blinkte ...«
»Nein, Unsinn, nichts von einer Krone ...«
»Doch, sie blinkte heimlich. Ich hätte sie gesehen, hätte sie deutlich in Ihrem Haar gesehen, wenn ich in einer dieser Stunden unvermerkt im Gestrüpp gestanden hätte ...«
»Gott weiß, was Sie gesehen hätten. Sie standen aber nicht dort, sondern eines Tages war es mein jetziger Mann, der zusammen mit meinem Vater aus dem Gebüsch hervortrat. Ich fürchte, sie hatten sogar allerhand von unserem Geschwätz belauscht ...«
»Dort war es also, wo Sie Ihren Herrn Gemahl kennenlernten, gnädige Frau?«
»Ja, dort lernte ich ihn kennen!«, sagte sie laut und fröhlich, und indem sie lächelte, trat das zartblaue Äderchen angestrengt und seltsam über ihrer Braue hervor. »Er besuchte meinen Vater in Geschäften, wissen Sie. Am nächsten Tage war er zum Diner geladen, und noch drei Tage später hielt er um meine Hand an.«
»Wirklich! Ging das alles so außerordentlich schnell?«
»Ja ... Das heißt, von nun an ging es ein wenig langsamer. Denn mein Vater war der Sache eigentlich gar nicht geneigt, müssen Sie wissen, und machte eine längere Bedenkzeit zur Bedingung. Erstens wollte er mich lieber bei sich behalten, und dann hatte er noch andere Skrupel. Aber ...«
»Aber?«
»Aber ich wollte es eben«, sagte sie lächelnd, und wieder beherrschte das blassblaue Äderchen mit einem bedrängten und kränklichen Ausdruck ihr ganzes liebliches Gesicht.
»Ah, Sie wollten es.«
»Ja, und ich habe einen ganz festen und respektablen Willen gezeigt, wie Sie sehen ...«
»Wie ich es sehe. Ja.«
»... sodass mein Vater sich schließlich darein ergeben musste.«
»Und so verließen Sie ihn denn und seine Geige, verließen das alte Haus, den verwucherten Garten, den Springbrunnen und Ihre sechs Freundinnen und zogen mit Herrn Klöterjahn.«
»Und zog mit ... Sie haben eine Ausdrucksweise, Herr Spinell! Beinahe biblisch! - Ja, ich verließ das alles, denn so will es ja die Natur.«
»Ja, so will sie es wohl.«
»Und dann handelte es sich ja um mein Glück.«
»Gewiss. Und es kam, das Glück ...«
»Das kam in der Stunde, Herr Spinell, als man mir zuerst den kleinen Anton brachte, unseren kleinen Anton, und als er so kräftig mit seinen kleinen gesunden Lungen schrie, stark und gesund wie er ist ...«
»Es ist nicht das erste Mal, dass ich Sie von der Gesundheit Ihres kleinen Anton sprechen höre, gnädige Frau. Er muss ganz ungewöhnlich gesund sein?«
»Das ist er. Und er sieht meinem Mann so lächerlich ähnlich!«
»Ah! - Ja, so begab es sich also. Und nun heißen Sie nicht mehr Eckhof, sondern anders, und haben den kleinen gesunden Anton und leiden ein wenig an der Luftröhre.«
»Ja. - Und Sie sind ein durch und durch rätselhafter Mensch, Herr Spinell, dessen versichere ich Sie ...«
»Ja, straf' mich Gott, das sind Sie!«, sagte die Rätin Spatz, die übrigens auch noch vorhanden war.
Aber auch mit diesem Gespräch beschäftigte Herrn Klöterjahns Gattin sich mehrere Male in ihrem Innern. So nichtssagend es war, barg es doch einiges auf seinem Grunde, was ihren Gedanken über sich selbst Nahrung gab. War dies der schädliche Einfluss, der sie berührte? Ihre Schwäche nahm zu, und oft stellte Fieber sich ein, eine stille Glut, in der sie mit einem Gefühle sanfter Gehobenheit ruhte, der sie sich in einer nachdenklichen, preziösen, selbstgefälligen und ein wenig beleidigten Stimmung überließ. Wenn sie nicht das Bett hütete und Herr Spinell auf den Spitzen seiner großen Füße mit ungeheurer Behutsamkeit zu ihr trat, in einer Entfernung von zwei Schritten stehenblieb und, das eine Bein zurückgestellt und den Oberkörper vorgebeugt, mit ehrfürchtig gedämpfter Stimme zu ihr sprach, wie als höbe er sie in scheuer Andacht sanft und hoch empor und bettete sie auf Wolkenpfühle, woselbst kein schriller Laut und keine irdische Berührung sie erreichen solle ... , so erinnerte sie sich der Art, in der Herr Klöterjahn zu sagen pflegte: »Vorsichtig, Gabriele, take care, mein Engel, und halte den Mund zu!«, eine Art, die wirkte, als schlüge er einem hart und wohlmeinend auf die Schulter. Dann aber wandte sie sich rasch von dieser Erinnerung ab, um in Schwäche und Gehobenheit auf den Wolkenpfühlen zu ruhen, die Herr Spinell ihr dienend bereitete.
Eines Tages kam sie unvermittelt auf das kleine Gespräch zurück, das sie mit ihm über ihre Herkunft und Jugend geführt hatte.
»Es ist also wahr«, fragte sie, »Herr Spinell, dass Sie die Krone gesehen hätten?«
Und obgleich jene Plauderei schon vierzehn Tage zurücklag, wusste er sofort, um was es sich handelte, und versicherte ihr mit bewegten Worten, dass er damals am Springbrunnen, als sie unter ihren sechs Freundinnen saß, die kleine Krone hätte blinken, - sie heimlich in ihrem Haar hätte blinken sehen.
Einige Tage später erkundigte sich ein Kurgast aus Artigkeit bei ihr nach dem Wohlergehen ihres kleinen Anton daheim. Sie ließ zu Herrn Spinell, der sich in der Nähe befand, einen hurtigen Blick hinübergleiten und antwortete ein wenig gelangweilt:
»Danke; wie soll es dem wohl gehen? - Ihm und meinem Mann geht es gut.«