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Naturalismus
Schon der Untertitel 'Novellistische Studie' zeigt an, dass es sich hier nicht einfach um eine Novelle handelt, sondern dass mit dieser Geschichte etwas untersucht, herausgefunden, vielleicht auch bewiesen werden soll, also eine Art wissenschaftlicher Anspruch darin vorliegt. Das nimmt das Programm des damals aufkommenden Naturalismus auf, beispielhaft formuliert in der 1887 erschienenen Schrift von Wilhelm Bölsche: "Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie".
Benutzte Literatur: Bölsche,  Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie,
                  1976
Für Bölsche, den Hauptmann in Berlin persönlich kennenlernte, hatte die Dichtung die Pflicht, mit den beschönigenden und versöhnlichen Tendenzen des Realismus Schluss zu machen und ein dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand der Zeit entsprechendes Lebensabbild an seine Stelle zu setzen. Das lief, von verschiedenen Seiten weiter ausformuliert, im Wesentlichen auf zwei Forderungen hinaus:
1. Inhaltlich sollte die Literatur nicht mehr bevorzugt das Schöne und Edle zeigen, sondern das gesellschaftlich Typische, also auch das Gewöhnliche oder gar Hässliche und dieses um so mehr, als die herkömmliche Literatur keine Notiz davon nahm. So sollten z.B. nicht nur gebildete Menschen gezeigt werden, sondern auch rohe und ungebildete wie Proletarier, Obdachlose oder Dirnen. Auf jeden Fall aber sollte das Menschenbild ein 'wissenschaftliches' sein, nämlich den Menschen als das zeigen, was er der Auffassung dieser Richtung nach war: ein Produkt seiner Erbanlagen, seiner Triebe und seines sozialen Milieus.
2. Formal sollte die Literatur auf alles gefällige Herrichten ihrer Stoffe verzichten. Auf der Bühne sollte nicht mehr Hochdeutsch und in Versen gesprochen werden, sondern Alltagssprache und Dialekt. Erzählungen sollten nicht mehr den Erzähler erkennen lassen, sondern nur noch die Sachen und die Menschen, von denen die Rede war. Vor allem aber sollte alles Moralisieren oder Verallgemeinern unterbleiben und von den Autoren nur möglichst genau protokolliert werden, was der Fall war.
Fazit: Es ging dem Naturalismus um eine quasi wissenschaftliche Bestandsaufnahme der Gegenwartsverhältnisse, teils um erkennbar zu machen, wie man sie verbessern kann, mehr noch aber, um sich für immer einen Platz in der Literaturgeschichte damit zu sichern.
Schon die Naturalisten selbst allerdings ahnten, dass das Publikum einer solchen Literatur nicht viel Interesse entgegenbringen würde, und so wurde gefordert, der Staat müsse sie unterstützen. Der allerdings dachte gar nicht daran, sondern reagierte per Theaterzensur mit Aufführungsverboten (wegen angeblich zu befürchtender Unruhen im Publikum) oder verklagte die Autoren wegen Gotteslästerung und der Verbreitung unzüchtiger Schriften. Das verschaffte dieser Literatur zwar sogar zusätzliche Beachtung und trug auch dazu bei, die Grenzen der Kunstfreiheit zu erweitern, konnte jedoch auf die Dauer nicht darüber hinwegtäuschen, dass man eine naturalistische Literatur eigentlich nicht brauchte. Die aufkommenden Sozialwissenschaften begannen mehr und mehr die Befunde zu liefern, auf die es den Naturalisten ihrem Programm nach ankam, und um den sozialen Einzelfall kümmerte sich zunehmend die journalistische Reportage. So war der Naturalismus wie eine Mode bald überholt, die verhältnismäßig kleine Zahl naturalistischer Dichtungen geriet in Vergessenheit und das literaturgeschichtlich Auffälligste blieb die große Zahl an Programmschriften.
Benutzte Literatur: Brauneck, Naturalismus. Manifeste und Dokumente 
                  zur deutschen Literatur,1987
Und die Werke des jungen Gerhart Hauptmann? Auch sie hätten sich schwerlich so lange behaupten können, wenn sie der naturalistischen Programmatik streng gefolgt wären. Wie sich aber auch an "Bahnwärter Thiel" beobachten lässt, gibt es Stilzüge bei Hauptmann, die zu dieser Richtung eher im Widerspruch stehen, sodass er eigentlich nur unter Vorbehalten als 'Naturalist' zu bezeichnen ist.
- I -
Sprung zur Textstelle Im Verlaufe von zehn Jahren war er zweimal krank gewesen ...
Die zehn Jahre, die vor dem Einsatz der eigentlichen Handlung liegen, werden in einem knapp gehaltenen Bericht wiedergegeben: Fünf Jahre ist der Bahnwärter allein zur Kirche gekommen, zwei Jahre hat er mit seiner ersten Frau gelebt, dann nach deren Tod im Kindbett und einem Trauerjahr wiederum geheiratet und auch von dieser Frau nach einem Jahr einen Sohn bekommen. Den neun Jahren, auf die sich das addiert, ist noch ein Jahr mit beiden Söhnen hinzuzufügen, sodass zum Handlungseinsatz im Juni (siehe ABSCHNITT 2) nach zehn Jahren die Kinder etwa ein und drei Jahre alt sind.
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Sprung zur Textstelle Gegen das neue Paar, welches nun allsonntäglich zur Kirche kam, hatten die Leute äußerlich durchaus nichts einzuwenden.
Wie schon das Urteil über Thiels erste Frau wird auch das über Lene zunächst als 'Meinung der Leute' wiedergegeben, sodass der Erzähler hier anscheinend nur Berichterstatter ist. Diese dem naturalistischen Objektivitäts-Gebot entsprechende Haltung wird allerdings nach und nach aufgegeben. Bereits im Folgesatz heißt es, dass dem Gesicht Lenes "im Gegensatz zu dem des Wärters die Seele abging" - ein klares Erzähler-Urteil. Danach wird wieder die Meinung der 'aufgebrachten Ehemänner' zitiert, doch mit dem Resumee -
Sprung zur Textstelle Er ... geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt seiner zweiten Frau und wurde zuletzt in allem fast unbedingt von ihr abhängig.
- erweist sich endgültig, dass hier ein traditioneller 'allwissender' Erzähler am Werk ist. Nur von einem solchen kann Thiels sexuelle Abhängigkeit von Lene ja so bestimmt mitgeteilt werden. Schon im Folgesatz - "Zu Zeiten empfand er Gewissensbisse über diesen Umschwung der Dinge" - richtet sich der Blick dann allein auf Thiels Innenleben, von welchem auch im Weiteren vorwiegend die Rede ist. Der Erzählform nach handelt es sich also zu größeren Teilen um eine personale Erzählung.
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Sprung zur Textstelle Oft freilich und besonders in Augenblicken einsamer Andacht ... sah er seinen jetzigen Zustand im Lichte der Wahrheit und empfand davor Ekel.
Wird hier Thiel eine schon sehr weit reichende Einsicht bescheinigt, so rückt der Erzähler in der nachfolgenden Außensicht wieder etwas davon ab, wenn es heißt:
Sprung zur Textstelle Thiel aber ... schien keine Augen für sie [die Verwünschungen] zu haben und wollte auch die Winke nicht verstehen, welche ihm von wohlmeinenden Nachbarsleuten gegeben wurden.
Mit diesem Wechsel der Perspektive räumt der Erzähler gleichsam ein, dass auch er über Thiel letzte Gewissheit nicht hat, so wie es einem anderen Menschen gegenüber ja auch nur wahrscheinlich ist.