"Bahnwärter Thiel" ist heute das wahrscheinlich bekannteste Werk Gerhart Hauptmanns, da seine Dramen nicht mehr so oft
gespielt und die meisten seiner Prosawerke kaum mehr gelesen werden. Lange Zeit hat man Hauptmann vor allem als Dramatiker wahrgenommen
und dabei besonders seine naturalistischen Stücke im Blick gehabt. Allerdings hat auch schon die Erstausgabe des 'Bahnwärters'
seit 1892 regelmäßige Wiederauflagen erlebt und bereits 1922 die 50. Auflage erreicht.
1926 nahm der Reclam-Verlag die Novelle in seine Universalbibliothek auf - ein zuverlässiges Indiz dafür, dass sie inzwischen
zur Studien- und Schullektüre geworden war. Schon nach drei Jahren konnte der Verlag dem Verfasser mitteilen, dass das erste
Hunderttausend verkauft sei. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden von dieser Ausgabe in Leipzig wie in Stuttgart
zahlreiche weitere Auflagen gedruckt, und auch bei Bertelsmann und in der Reihe der Hanser-Literatur-Kommentare kam der Text heraus.
Desgleichen fand er in der Nachkriegszeit Eingang in mehrere Novellen-Sammlungen.
Sehr früh wurde die Novelle aber auch übersetzt, zuerst 1894 ins Russische, dann ins Dänische, Bulgarische, Polnische,
Estnische, Tschechische, während die westeuropäischen Sprachen erst von den 1920er Jahren an folgten. Das Dämonisch-Dunkle
des Thiel'schen Seelendramas kam der osteuropäischen Stimmungslage dieser Zeit - man denke an Dostojewski - offenbar besonders entgegen.
Die Übersetzung in etliche weitere, besonders asiatische Sprachen, aber auch die anhaltende Verbreitung im deutschen Sprachraum hat
allerdings wohl auch damit zu tun, dass sich an dieser Novelle die literarische Strömung des Naturalismus beispielhaft abhandeln lässt.
Von den ohnehin nicht zahlreichen Prosawerken dieser Strömung ist die Hauptmann'sche Novelle das einzige, an dessen Inhalt
man bis heute Anteil nehmen kann, und so wird es gern auch zur Kennzeichnung des Epochenzusammenhanges benutzt.

ZDF: 1968 wartete das Zweite Deutsche Fernsehen mit einer Filmfassung der Novelle auf, der allerdings
nicht viel abzugewinnen ist. Der Form nach handelt es sich überwiegend um einen Stummfilm, der mit der Lesung des
Hauptmann'schen Textes hinterlegt ist. Dadurch kommt aber weder der Text zur Geltung, weil die gespielten Szenen von ihm ablenken,
noch kann sich das Spiel entfalten, weil es nur häppchenweise die Aussagen des Textes illustriert. Eine Film-Atmosphäre entsteht
so nicht, es bleibt bei einer Literatur-Vorführung.
Aber auch die Stoffauffassung ist befremdlich. Während sich bei Hauptmann die Mordtat Thiels aus seiner seelischen und sozialen
Zwangslage erklärt, wird sie hier diffus auf den Erbsünde-Gedanken zurückgeführt. Mit einem halben Dutzend
schwülstiger Bibelzitate, die keinerlei Entsprechung in der Novelle haben, wird der Blick auf das Wirken des Bösen in der Welt
gelenkt, welchem Thiel wegen seiner Geschlechtslust dann zum Opfer fällt. Heinz Baumann in der Titelrolle muss
deshalb auch immer das gleiche prinzipienstrenge Gesicht machen, er ist gar nicht beteiligt, es packt ihn einfach. Dass er für
das schlichte Amt eines Schrankenwärters viel zu gut gestellt erscheint, gehört wohl auch zur Konzeption: Was diesem
Denkmal eines preußischen Bahnbeamten widerfährt, so soll man wohl folgern, kann jedem widerfahren, vor dem Bösen und
zumal der Sexualität muss man immer christlich auf der Hut sein.

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Heinz Baumann (geboren 1928) als Bahnwärter
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Thiel mit seiner ersten Frau Minna (Ursula Steiner)
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Thiel mit seiner ersten Frau
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Thiel mit seiner zweiten Frau Lena (Eva Kotthaus, geboren 1932)
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Thiels zweite Frau
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Thiels Bahnstrecke
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Thiel mit seinem Sohn Tobias
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Thiel mit Tobias beim Flötenspiel
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Die Bahnstrecke ...
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... und der Schrankenwärter.
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Thiel in Gedanken bei seiner ersten Frau
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Lene wird von Thiel beim Ausziehen beobachtet
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Auf dem Acker an der Bahnstrecke
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Thiel bemerkt das Unglück
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Beim Abtransport des verunglückten Tobias
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Thiel nach dem Unglück
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Thiel mit der Mütze und der Holzpuppe seines Sohnes
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DFF: 1982 verfilmte der Deutsche Fernsehfunk (DDR) den Stoff und machte es wesentlich besser. Hier spricht zwar auch
im Hintergrund ein Erzähler, aber er kommentiert das Geschehen nur gelegentlich und verwendet den Novellentext dabei ebenso frei, wie
die Personen nur angelehnt an die Formulierungen Hauptmanns sprechen. So entsteht eine atmosphärisch dichte, das Bahnwärter-Milieu
gut treffende Film-Erzählung, die sich ganz selbstständig neben dem Novellentext behaupten kann.
Großen Anteil an der Eindringlichkeit dieses Filmes haben die Schauspieler, besonders der 1930 in Schlesien geborene Martin Trettau
als Thiel. Seine Verwandlungsfähigkeit in dieser Rolle, in der er ja oft allein im Bild ist, muss man schlicht bewundern. Aber auch die 1943
in Berlin geborene Walfriede Schmitt macht Lenes derbe Sinnlichkeit überzeugend fühlbar. Die durchaus deftige Bettszene, zu der es
einmal kommt, wäre für die Wahrnehmung der sexuellen Abhängigkeit Thiels von ihr gar nicht nötig gewesen. Insgesamt zeigt diese
Verfilmung, wie viel von Hauptmanns naturalistischen Dramen auch in dieser Novelle schon steckt.
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Thiel (Martin Trettau, 1930-2007) seiner ersten Frau Minna (Blanche Kommerell, geboren 1950)
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Thiel in den glücklichen Tagen der ersten Ehe
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Walfriede Schmitt (geboren 1943) als Thiels zweite Frau Lene
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Thiel mit Lene bei Tisch
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Thiels Bahnübergang
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Thiel mit seinem Sohn Tobias
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Thiel im Gespräch mit seiner Frau
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Thiels mit Tobias beim Spiel am Fluss
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Thiel an seiner Schranke ...
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... und dem Zug nachblickend.
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Thiel in Verwirrung
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Aufbruch zur Bahnstrecke
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Thiel bei dem Versuch, den Zug aufzuhalten
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Thiel beim Dienst nach dem Unglück
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Thiel mit der Mütze seines Sohnes auf dem Bahngleis
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Thiel auf der Polizeistation
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