[Vorrede zum Zweiten Band der 'Leute von Seldwyla']

Seit die erste Hälfte dieser Erzählungen erschienen, streiten sich etwa sieben Städte im Schweizerlande darum, welche unter
ihnen mit Seldwyla gemeint sei; und da nach alter Erfahrung der eitle Mensch lieber für schlimm, glücklich und kurzweilig als
für brav, aber unbeholfen und einfältig gelten will, so hat jede dieser Städte dem Verfasser ihr Ehrenbürgerrecht
angeboten für den Fall, dass er sich für sie erkläre.

Weil er aber schon eine Heimat besitzt, die hinter keinem jener ehrgeizigen Gemeinwesen zurücksteht, so suchte er sie dadurch
zu beschwichtigen, dass er ihnen vorgab, es rage in jeder Stadt und in jedem Tale der Schweiz ein Türmchen von Seldwyla und
diese Ortschaft sei mithin als eine Zusammenstellung solcher Türmchen, als eine ideale Stadt zu betrachten, welche nur auf den
Bergnebel gemalt sei und mit ihm weiterziehe, bald über diesen, bald über jenen Gau, und vielleicht da oder dort über
die Grenze des lieben Vaterlandes, über den alten Rheinstrom hinaus.

Während aber einige der Städte hartnäckig fortfahren, sich ihres Homers schon bei dessen Lebzeiten versichern zu
wollen, hat sich mit dem wirklichen Seldwyla eine solche Veränderung zugetragen, dass sich sein sonst durch Jahrhunderte
gleichgebliebener Charakter in weniger als zehn Jahren geändert hat und sich ganz in sein Gegenteil zu verwandeln droht.

Oder, wahrer gesagt, hat sich das allgemeine Leben so gestaltet, dass die besonderen Fähigkeiten und Nücken
der wackeren Seldwyler sich herrlicher darin entwickeln können, ein günstiges Fahrwasser, ein dankbares Ackerfeld
daran haben, auf welchem gerade sie Meister sind, und dadurch zu gelungenen, beruhigten Leuten werden, die sich nicht mehr
von der braven übrigen Welt unterscheiden.

Es ist insonderlich die überall verbreitete Spekulationsbetätigung in bekannten und unbekannten Werten, welche
den Seldwylern ein Feld eröffnet hat, das für sie wie seit Urbeginn geschaffen schien und sie mit einem Schlage
Tausenden von ernsthaften Geschäftsleuten gleichstellte.

Das gesellschaftliche Besprechen dieser Werte, das Herumspazieren zum Auftrieb eines Geschäftes, mit welchem keine
weitere Arbeit verbunden ist als das Erdulden mannigfacher Aufregung, das Eröffnen oder Absenden von Depeschen und
hundert ähnliche Dinge, die den Tag ausfüllen, sind so recht ihre Sache. Jeder Seldwyler ist nun ein geborener Agent
oder dergleichen, und sie wandern als solche förmlich aus, wie die Engadiner Zuckerbäcker, die Tessiner Gipsarbeiter
und die savoyischen Kaminfeger.

Statt der ehemaligen dicken Brieftasche mit zerknitterten Schuldscheinen und Bagatellwechseln führen sie nun elegante
kleine Notizbücher, in welchen die Aufträge in Aktien, Obligationen, Baumwolle oder Seide kurz notiert werden. Wo irgend eine
Unternehmung sich auftut, sind einige von ihnen bei der Hand, flattern wie die Sperlinge um die Sache herum und helfen sie ausbreiten.
Gelingt es einem, für sich selbst einen Gewinn zu erhaschen, so steuert er stracks damit seitwärts, wie der Karpfen mit dem Regenwurm,
und taucht vergnügt an einem anderen Lockort wieder auf.

Immer sind sie in Bewegung und kommen mit aller Welt in Berührung. Sie spielen mit den angesehensten Geschäftsmännern
Karten und verstehen es vortrefflich, zwischen dem Ausspielen schnelle Antworten auf Geschäftsfragen zu geben oder ein bedeutsames
Schweigen zu beobachten.

Dabei sind sie jedoch bereits einsilbiger und trockener geworden; sie lachen weniger als früher und finden fast keine Zeit mehr, auf
Schwänke und Lustbarkeiten zu sinnen.

Schon sammelt sich da und dort einiges Vermögen an, welches bei eintretenden Handelskrisen zwar zittert wie Espenlaub, oder sich sogar still
wieder auseinander begibt wie eine ungesetzliche Versammlung, wenn die Polizei kommt.

Aber statt der früheren plebejisch-gemütlichen Konkurse und Verlumpungen, die sie untereinander
abspielten, gibt es jetzt vornehme Accommodements mit stattlichen auswärtigen
Gläubigern, anständig besprochene Schicksalswendungen, welche annäherungsweise wie etwas Rechtes aussehen,
sodann Wiederaufrichtungen, und nur selten muss noch einer vom Schauplatze abtreten.

Von der Politik sind sie beinahe ganz abgekommen, da sie glauben, sie führe immer zum Kriegswesen; als angehende Besitzlustige
fürchten und hassen sie aber alle Kriegsmöglichkeiten wie den baren Teufel, während sie sonst hinter ihren Bierkrügen
mit der ganzen alten Pentarchie zumal Krieg führten. So sind sie, ehemals die eifrigsten Kannegießer, dahin gelangt, sich
ängstlich vor jedem Urteil in politischen Dingen zu hüten, um ja kein Geschäft, bewusst oder unbewusst, auf
ein solches zu stützen, da sie das blinde Vertrauen auf den Zufall für solider halten.

Aber eben durch alles das verändert sich das Wesen der Seldwyler; sie sehen, wie gesagt, schon aus wie andere Leute; es ereignet
sich nichts mehr unter ihnen, was der beschaulichen Aufzeichnung würdig wäre, und es ist daher an der Zeit, in ihrer Vergangenheit
und den guten lustigen Tagen der Stadt noch eine kleine Nachernte zu halten, welcher
Tätigkeit die nachfolgenden weiteren fünf Erzählungen ihr Dasein verdanken.