Gestaltungsmerkmale Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
[Fünfter Teil]
Sprung zur Textstelle ... und nun war er ein Betrüger geworden dadurch, dass die Torheit der Welt ihn in einem unbewachten und sozusagen wehrlosen Augenblicke überfallen und ihn zu ihrem Spielgesellen gemacht hatte.
Der Erzähler wirbt nun geradezu um Verständnis für das Handeln Strapinskis und entschuldigt ihn überdies durch seine ehrliche Reue. Denn anders als betrügerische Landesfürsten, Priester, Professoren, Künstler oder Kaufleute, die allesamt Schlimmeres verbrechen und nicht bereuen, ist Strapinski über seine Verfehlung so unglücklich, dass er am liebsten sterben möchte.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle Da man aber, wenn man weint, fast immer zugleich auch die Nase schnäuzen muß, so sah sie sich doch genötigt, das Taschentuch zu nehmen, und tat einen tüchtigen Schnäuz, worauf sie stolz und zornig um sich blickte.
Um die Rührung nicht überhand nehmen zu lassen, wendet sich Keller in einer für ihn typischen Weise einer ernüchternden Äußerlichkeit zu, die in diesem Falle auch tatsächlich eine Wendung in Nettchens Verhalten mit sich bringt.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle Und doch war gleichzeitig ihre Seele wie in tiefer, schwerer, unglücklicher Vergessenheit befangen. Was sind Glück und Leben! Von was hängen sie ab? ... Solche mehr geträumte als gedachte Fragen umfingen die Seele Nettchens ...
Das zunächst als ziemlich einfältig dargestellte Nettchen hat nunmehr eine 'Seele', die tiefer Gedanken und Empfindungen fähig ist, und so vorbereitet wird auch ihr großmütiges und besonnenes Handeln begreiflich.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle ... der schlanke Leib und die geschmeidigen Glieder, wohl geschnürt und bekleidet, alles sagte noch in der Erstarrung, am Rande des Unterganges, im Verlorensein: Kleider machen Leute!
An dieser Stelle wird besonders deutlich, was auch zuvor schon immer mitläuft: dass es - entgegen dem wiederholten Sprichwort - nicht nur die Kleider sind, die Strapinskis gesellschaftlichen Erfolg ausmachen, sondern auch sein schönes Gesicht, sein Wuchs, sein gefälliges Auftreten. Keller, dem das alles fehlte, will sich offenbar nicht völlig eingestehen, dass die Natur ebenso sehr an der Zuteilung gesellschaftlicher Chancen beteiligt ist wie die Kleidung. Eine Generation später wird Thomas Mann dies in seinen "Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull" (erschienen 1955, konzipiert schon ab 1910) zum Kernpunkt einer ganz ähnlichen Geschichte machen. Für Felix Krull gilt, dass er in jeder Kleidung gefällt, und seine Überzeugung ist, dass sich der wahre Adel des Menschen erst im Zustand der Nacktheit zeigt.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle "Trinken Sie dies", sagte Nettchen, die sich wieder gesetzt hatte, "es wird Ihnen gesund sein!"
An der Sie-Anrede wird der Abstand deutlich, den Nettchen für ihr 'Verhör' zu Strapinski herstellt, sie möchte ihm nicht vorzeitig anzeigen, dass sie ihm verzeihen könnte.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle "Ja, jetzt ist es mir klar und deutlich vor Augen, wie es gekommen wäre! Ich wäre mit dir in die weite Welt gegangen ..."
In seiner Vorstellung noch immer ihr Bräutigam, fällt Strapinski zurück in das Du, das zugleich Nettchen gegenüber ein Liebesbekenntnis ist.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle "Meine Mutter war, ehe sie sich verheiratet hatte, in Diensten einer benachbarten Gutsherrin und mit derselben auf Reisen und in großen Städten gewesen ..."
Mit der hier nachgetragenen Jugendgeschichte wird zusätzlich um Verständnis für Strapinskis Neigung zum 'Höheren' geworben, sodass die früheren Vorwürfe gegen ihn endgültig hinfällig werden.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle In der Tat hatten sich die zunächst den Schläfen und über der Stirne liegenden Locken Nettchens leise bewegt ... Die allzeit etwas kokette Mutter Natur hatte hier eines ihrer Geheimnisse angewendet, um den schwierigen Handel zu Ende zu führen.
Der 'schwierige Handel' ist wiederum eine solche sachliche Wendung, wie sie Keller der Gefahr überhandnehmender Sentimentalität entgegenzusetzen pflegt.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle So feierte sie erst jetzt ihre rechte Verlobung aus tief entschlossener Seele, indem sie in süßer Leidenschaft ein Schicksal auf sich nahm und Treue hielt.
Auf diesen pathetischen Satz folgt unmittelbar anschließend die Erklärung, dass sie 'keineswegs so blöde war, ihr Schicksal nicht auch ein wenig zu lenken zu wollen'. Auch hier nimmt Keller von einer rein positiven Wertung sofort wieder etwas zurück.