[Erster Teil]

"Kleider machen Leute" ist eine durch und durch didaktische Erzählung, d.h. sie will belehren und eine 'Moral' vermitteln. Doch
welche Moral? Geht es um die Täuschbarkeit der Menschen durch Äußerlichkeiten wie ein gutes Aussehen und vornehme
Kleidung? Oder geht es um die Verführbarkeit der Menschen zur Unredlichkeit, wenn sie durch zufällige Umstände einen Vorteil
davon haben? Also 'Kleider machen Leute' oder 'Gelegenheit macht Diebe'?

Auch eine flüchtige Lektüre wird ergeben, dass Keller beides im Sinn hat, also mal mehr die eine, mal mehr die andere Schwäche
aufs Korn nimmt. Das erschwert es dem Leser, sich mit einer der Seiten zu identifizieren, und so ist die Geschichte zumal bei Schülern
nicht unbedingt beliebt. Doch was für den Sympathiewert ein Nachteil ist, ist für die nähere Befassung mit dem Text ein Vorteil.
Der Abstand, in den man zu dem erzählten Geschehen immer wieder gerät, erleichtert es auch, die Erzählweise selbst
zu beobachten, und das lohnt sich mehr, als dem Autor bloß seine Urteile nachzusprechen oder noch einmal zu erklären, was der Text
deutlich genug selbst schon erklärt.

Es soll also hauptsächlich auf den gleichsam springenden Erzähler-Standort geachtet
werden. Er zeigt sich nicht bloß an den wechselnden negativen Bewertungen mal Strapinskis, mal der Goldacher, sondern auch an der Art
und Weise, wie Keller mit seinen positiven Urteilen umgeht. Wo immer ihm sein Wohlwollen zu deutlich gerät, fällt er sich mit einer trockenen
Bemerkung gleichsam selbst ins Wort und nimmt auf diese Weise auch dem Leser die Meinung, dass irgend etwas rundum in Ordnung sein könnte.
Derselbe nahm das Anerbieten dankbar und bescheiden an, worauf der Wagen rasch mit ihm von dannen rollte ...
Die Bewertung Strapinskis fällt zunächst ganz positiv aus, er ist in allem ein anständiger Mensch, der seine Stellung in der Welt
richtig einschätzt und sich bescheiden mit ihr zufrieden gibt.
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Den einzigen Tag, wo wir keinen Gast erwarten und nichts da ist, muss ein solcher Herr kommen! Und der Kutscher hat ein Wappen auf
den Knöpfen, und der Wagen ist wie der eines Herzogs!
Der Wirt und nach ihm nahezu alle Goldacher lassen sich durch Äußerlichkeiten täuschen und werden darin unentwegt
lächerlich gemacht. Selbst die deutlichsten Signale, dass dieser Reisende kein
vornehmer Mann ist, werden auf Grund von dessen Kleidung übersehen oder missdeutet, die Schilderung ihres Verhaltens wird zu
einer einzigen Satire auf die falschen gesellschaftlichen Maßstäbe.
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Doch verwickelte er sich jetzt in die erste selbsttätige Lüge, weil er in dem verschlossenen Raume ein wenig verweilte, und er betrat hiermit
den abschüssigen Weg des Bösen.
Der Übergang vom passiven Hinnehmen der Verwechslung zu ihrer aktiven Ausnutzung könnte deutlicher nicht markiert werden: Strapinski
wird erstmals schuldig durch ein kurzes und durch die entsprechende Verrichtung nicht notwendiges Verweilen auf der Toilette. So schmal kann die Grenze
sein, soll das besagen, die Ehrlichkeit von Unehrlichkeit scheidet.
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Da beging der Schneider den zweiten selbsttätigen Fehler, indem er aus Gehorsam Ja statt Nein sagte, und alsobald verfügte sich der
Waagwirt persönlich in den Keller ...
Zwar wird die Tugend des Gehorsams noch entschuldigend zugunsten Strapinskis angeführt, aber mit seinem Ja hat er eine weitere, noch schwerere
Verfehlung begangen: er hat, wissend, dass er nicht bezahlen kann, etwas bestellt.