[Vierter Teil: Nach zwölf Jahren]

Um wenigstens etwas Beißbares zu erwerben und die Zeit zu verbringen,
verlegten sich Vater und Sohn auf die Fischerei, das heißt mit der Angelrute,
soweit es für jeden erlaubt war, sie in den Fluss zu hängen. Dies
war auch eine Hauptbeschäftigung der Seldwyler, nachdem sie falliert hatten.
Bei günstigem Wetter, wenn die Fische gern anbissen, sah man sie dutzendweise
hinauswandern mit Rute und Eimer, und wenn man an den Ufern des Flusses wandelte,
hockte alle Spanne lang einer, der angelte, der eine in einem langen braunen
Bürgerrock, die bloßen Füße im Wasser, der andere in einem
spitzen blauen Frack auf einer alten Weide stehend, den alten Filz schief auf
dem Ohre; weiterhin angelte gar einer im zerrissenen großblumigen Schlafrock,
da er keinen andern mehr besaß, die lange Pfeife in der einen, die Rute in der
anderen Hand, und wenn man um eine Krümmung des Flusses bog, stand ein alter
kahlköpfiger Dickbauch faselnackt auf einem Stein und angelte; dieser hatte,
trotz des Aufenthaltes am Wasser, so schwarze Füße, dass man glaubte,
er habe die Stiefel anbehalten. Jeder hatte ein Töpfchen oder ein Schächtelchen
neben sich, in welchem Regenwürmer wimmelten, nach denen sie zu andern Stunden
zu graben pflegten. Wenn der Himmel mit Wolken bezogen und es ein schwüles
dämmeriges Wetter war, welches Regen verkündete, so standen diese Gestalten
am zahlreichsten an dem ziehenden Strome, regungslos gleich einer Galerie von
Heiligen- oder Prophetenbildern. Achtlos zogen die Landleute mit Vieh und Wagen an
ihnen vorüber, und die Schiffer auf dem Flusse sahen sie nicht an, während
sie leise murrten über die störenden Schiffe.

Wenn man Manz vor zwölf Jahren, als er mit einem schönen Gespann pflügte
auf dem Hügel über dem Ufer, geweissagt hätte, er würde sich einst
zu diesen wunderlichen Heiligen gesellen und gleich ihnen Fische fangen, so wäre
er nicht übel aufgefahren. Auch eilte er jetzt hastig an ihnen vorüber
hinter ihren Rücken und eilte stromaufwärts gleich einem eigensinnigen
Schatten der Unterwelt, der sich zu seiner Verdammnis ein bequemes einsames
Plätzchen sucht an den dunklen Wässern. Mit der Angelrute zu stehen hatten
er und sein Sohn indessen keine Geduld und sie erinnerten sich der Art, wie die
Bauern auf manche andere Weise etwa Fische fangen, wenn sie übermütig sind,
besonders mit den Händen in den Bächen; daher nahmen sie die Ruten nur zum
Schein mit und gingen an den Borden der Bäche hinauf, wo sie wussten, dass
es teure und gute Forellen gab.

Dem auf dem Lande zurückgebliebenen Marti ging es inzwischen auch immer schlimmer
und es war ihm höchst langweilig dabei, sodass er, anstatt auf seinem
vernachlässigten Felde zu arbeiten, ebenfalls auf das Fischen verfiel und
tagelang im Wasser herumplätscherte. Vrenchen durfte nicht von seiner Seite und
musste ihm Eimer und Gerät nachtragen durch nasse Wiesengründe, durch
Bäche und Wassertümpel aller Art, bei Regen und Sonnenschein, indessen sie
das Notwendigste zu Hause liegen lassen musste. Denn es war sonst keine Seele mehr
da und wurde auch keine gebraucht, da Marti das meiste Land schon verloren hatte und
nur noch wenige Äcker besaß, die er mit seiner Tochter liederlich genug oder
gar nicht bebaute.

So kam es, dass, als er eines Abends einen ziemlich tiefen und reißenden Bach
entlang ging, in welchem die Forellen fleißig sprangen, da der Himmel voll
Gewitterwolken hing, er unverhofft auf seinen Feind Manz traf, der an dem andern Ufer
daherkam. Sobald er ihn sah, stieg ein schrecklicher Groll und Hohn in ihm auf, sie
waren sich seit Jahren nicht so nahe gewesen, ausgenommen vor den Gerichtsschranken,
wo sie nicht schelten durften, und Marti rief jetzt voll Grimm: »Was tust du hier,
du Hund? Kannst du nicht in deinem Lotterneste bleiben, du Seldwyler Lumpenhund?«

»Wirst nächstens wohl auch ankommen, du Schelm!«, rief Manz. »Fische
fängst du ja auch schon und wirst deshalb nicht viel mehr zu versäumen haben!«

»Schweig, du Galgenhund!«, schrie Marti, da hier die Wellen des Baches stärker
rauschten, »du hast mich ins Unglück gebracht!« Und da jetzt auch die Weiden
am Bache gewaltig zu rauschen anfingen im aufgehenden Wetterwind, so musste Manz noch
lauter schreien: »Wenn dem nur so wäre, so wollte ich mich freuen, du elender
Tropf!« - »O du Hund!«, schrie Marti herüber und Manz hinüber:
»O du Kalb, wie dumm tust du!« Und jener sprang wie ein Tiger den Bach entlang
und suchte herüberzukommen. Der Grund, warum er der Wütendere war, lag in
seiner Meinung, dass Manz als Wirt wenigstens genug zu essen und zu trinken hätte
und gewissermaßen ein kurzweiliges Leben führe, während es ungerechterweise
ihm so langweilig wäre auf seinem zertrümmerten Hofe. Manz schritt indessen auch
grimmig genug an der anderen Seite hin; hinter ihm sein Sohn, welcher, statt auf den
bösen Streit zu hören, neugierig und verwundert nach Vrenchen hinübersah,
welche hinter ihrem Vater ging, vor Scham in die Erde sehend, dass ihr die braunen
krausen Haare ins Gesicht fielen. Sie trug einen hölzernen Fischeimer in der einen
Hand, in der anderen hatte sie Schuh und Strümpfe getragen und ihr Kleid der
Nässe wegen aufgeschürzt. Seit aber Sali auf der anderen Seite ging, hatte
sie es schamhaft sinken lassen und war nun dreifach belästigt und gequält,
da sie alle das Zeug tragen, den Rock zusammenhalten und des Streites wegen sich
grämen musste. Hätte sie aufgesehen und nach Sali geblickt, so würde
sie entdeckt haben, dass er weder vornehm noch sehr stolz mehr aussah und selbst
bekümmert genug war. Während Vrenchen so ganz beschämt und verwirrt auf
die Erde sah und Sali nur diese in allem Elende schlanke und anmutige Gestalt im Auge
hatte, die so verlegen und demütig dahinschritt, beachteten sie dabei nicht, wie
ihre Väter still geworden, aber mit verstärkter Wut einem hölzernen
Stege zueilten, der in kleiner Entfernung über den Bach führte und eben
sichtbar wurde. Es fing an zu blitzen und erleuchtete seltsam die dunkle melancholische
Wassergegend; es donnerte auch in den grauschwarzen Wolken mit dumpfem Grolle und
schwere Regentropfen fielen, als die verwilderten Männer gleichzeitig auf die
schmale, unter ihren Tritten schwankende Brücke stürzten, sich gegenseitig
packten und die Fäuste in die vor Zorn und ausbrechendem Kummer bleichen
zitternden Gesichter schlugen. Es ist nichts Anmutiges und nichts weniger als artig,
wenn sonst gesetzte Menschen noch in den Fall kommen, aus Übermut, Unbedacht
oder Notwehr unter allerhand Volk, das sie nicht näher berührt, Schläge
auszuteilen oder welche zu bekommen; allein dies ist eine harmlose Spielerei gegen das
tiefe Elend, das zwei alte Menschen überwältigt, die sich wohl kennen und seit
lange kennen, wenn diese aus innerster Feindschaft und aus dem Gange einer ganzen
Lebensgeschichte heraus sich mit nackten Händen anfassen und mit Fäusten
schlagen. So taten jetzt diese beide ergrauten Männer; vor fünfzig Jahren
vielleicht hatten sie sich als Buben zum letzten Mal gerauft, dann aber fünfzig
lange Jahre mit keiner Hand mehr berührt, ausgenommen in ihrer guten Zeit, wo
sie sich etwa zum Gruße die Hände geschüttelt, und auch dies nur selten
bei ihrem trockenen und sichern Wesen. Nachdem sie ein oder zweimal geschlagen, hielten
sie inne und rangen still zitternd miteinander, nur zuweilen aufstöhnend und
elendiglich knirschend, und einer suchte den andern über das knackende Geländer
ins Wasser zu werfen. Jetzt waren aber auch ihre Kinder nachgekommen und sahen den
erbärmlichen Auftritt. Sali sprang eines Satzes heran, um seinem Vater beizustehen
und ihm zu helfen, dem gehassten Feinde den Garaus zu machen, der ohnehin der
schwächere schien und eben zu unterliegen drohte. Aber auch Vrenchen sprang, alles
wegwerfend, mit einem langen Aufschrei herzu und umklammerte ihren Vater, um ihn zu
schützen, während sie ihn dadurch nur hinderte und beschwerte.
Tränen strömten aus ihren Augen und sie sah flehend den Sali an, der im
Begriff war, ihren Vater ebenfalls zu fassen und vollends zu überwältigen.
Unwillkürlich legte er aber seine Hand an seinen eigenen Vater und suchte
denselben mit festem Arm von dem Gegner loszubringen und zu beruhigen, sodass
der Kampf eine kleine Weile ruhte oder vielmehr die ganze Gruppe unruhig hin und her
drängte, ohne auseinander zu kommen. Darüber waren die jungen Leute, sich
mehr zwischen die Alten schiebend, in dichte Berührung gekommen, und in diesem
Augenblicke erhellte ein Wolkenriss, der den grellen Abendschein durchließ,
das nahe Gesicht des Mädchens, und Sali sah in dies ihm so wohlbekannte und doch
so viel anders und schöner gewordene Gesicht. Vrenchen sah in diesem Augenblicke
auch sein Erstaunen und es lächelte ganz kurz und geschwind mitten in seinem
Schrecken und in seinen Tränen ihn an. Doch ermannte sich Sali, geweckt durch
die Anstrengungen seines Vaters, ihn abzuschütteln, und brachte ihn mit
eindringlich bittenden Worten und fester Haltung endlich ganz von seinem Feinde
weg. Beide alte Gesellen atmeten hoch auf und begannen jetzt wieder zu schelten
und zu schreien, sich voneinander abwendend; ihre Kinder aber atmeten kaum und
waren still wie der Tod, gaben sich aber im Wegwenden und Trennen, ungesehen von
den Alten, schnell die Hände, welche vom Wasser und von den Fischen feucht
und kühl waren.

Als die grollenden Parteien ihrer Wege gingen, hatten die Wolken sich wieder
geschlossen, es dunkelte mehr und mehr und der Regen goss nun in Bächen
durch die Luft. Manz schlenderte voraus auf den dunklen nassen Wegen, er duckte
sich, beide Hände in den Taschen, unter den Regengüssen, zitterte noch
in seinen Gesichtszügen und mit den Zähnen und ungesehene Tränen
rieselten ihm in den Stoppelbart, die er fließen ließ, um sie durch
das Wegwischen nicht zu verraten. Sein Sohn hatte aber nichts gesehen, weil er
in glückseligen Bildern verloren daherging. Er merkte weder Regen noch Sturm,
weder Dunkelheit noch Elend; sondern leicht, hell und warm war es ihm innen und
außen und er fühlte sich so reich und wohlgeborgen wie ein Königssohn.
Er sah fortwährend das sekundenlange Lächeln des nahen schönen
Gesichtes und erwiderte dasselbe erst jetzt, eine gute halbe Stunde nachher, indem
er voll Liebe in Nacht und Wetter hinein und das liebe Gesicht anlachte, das ihm
allerwegen aus dem Dunkel entgegentrat, sodass er glaubte, Vrenchen müsse
auf seinen Wegen dies Lachen notwendig sehen und seiner inne werden.