[Dritter Teil: Der Niedergang der Familien]

So war es nun schlimm bestellt um die armen Kinder, welche weder eine gute
Hoffnung für ihre Zukunft fassen konnten noch sich auch nur einer
lieblich frohen Jugend erfreuten, da überall nichts als Zank und Sorge war.
Vrenchen hatte anscheinend einen schlimmern Stand als Sali, da seine Mutter tot
und es einsam in einem wüsten Hause der Tyrannei eines verwilderten Vaters
anheimgegeben war. Als es sechzehn Jahre zählte, war es schon ein
schlank gewachsenes, ziervolles Mädchen; seine dunkelbraunen Haare ringelten
sich unablässig fast bis über die blitzenden braunen Augen, dunkelrotes
Blut durchschimmerte die Wangen des bräunlichen Gesichtes und glänzte
als tiefer Purpur auf den frischen Lippen, wie man es selten sah und was dem
dunklen Kinde ein eigentümliches Ansehen und Kennzeichen gab. Feurige
Lebenslust und Fröhlichkeit zitterte in jeder Fiber dieses Wesens; es
lachte und war aufgelegt zu Scherz und Spiel, wenn das Wetter nur im Mindesten
lieblich war, das heißt wenn es nicht zu sehr gequält wurde und nicht
zu viel Sorgen ausstand. Diese plagten es aber häufig genug; denn nicht nur
hatte es den Kummer und das wachsende Elend des Hauses mit zu tragen, sondern es
musste noch sich selber in acht nehmen und mochte sich gern halbwegs ordentlich
und reinlich kleiden, ohne dass der Vater ihm die geringsten Mittel dazu geben
wollte. So hatte Vrenchen die größte Not, ihre anmutige Person
einigermaßen auszustaffieren, sich ein allerbescheidenstes Sonntagskleid zu
erobern und einige bunte, fast wertlose Halstüchelchen zusammenzuhalten.
Darum war das schöne wohlgemute junge Blut in jeder Weise gedemütigt
und gehemmt und konnte am wenigsten der Hoffart anheimfallen. Überdies hatte
es bei schon erwachendem Verstande das Leiden und den Tod seiner Mutter gesehen,
und dies Andenken war ein weiterer Zügel, der seinem lustigen und feurigen
Wesen angelegt war, sodass es nun höchst lieblich, unbedenklich und
rührend sich ansah, wenn trotz alledem das gute Kind bei jedem Sonnenblick
sich ermunterte und zum Lächeln bereit war.

Sali erging es nicht so hart auf den ersten Anschein; denn er war nun ein
hübscher und kräftiger junger Bursche, der sich zu wehren wusste
und dessen äußere Haltung wenigstens eine schlechte Behandlung von selbst
unzulässig machte. Er sah wohl die üble Wirtschaft seiner Eltern und
glaubte sich erinnern zu können, dass es einst nicht so gewesen; ja er
bewahrte noch das frühere Bild seines Vaters wohl in seinem Gedächtnisse
als eines festen, klugen und ruhigen Bauers, desselben Mannes, den er jetzt als
einen grauen Narren, Händelführer und Müßiggänger vor
sich sah, der mit Toben und Prahlen auf hundert törichten und verfänglichen
Wegen wandelte und mit jeder Stunde rückwärts ruderte wie ein Krebs. Wenn
ihm nun dies missfiel und ihn oft mit Scham und Kummer erfüllte, während
es seiner Unerfahrenheit nicht klar war, wie die Dinge so gekommen, so wurden seine
Sorgen wieder betäubt durch die Schmeichelei, mit der ihn die Mutter behandelte.
Denn um in ihrem Unwesen ungestörter zu sein und einen guten Parteigänger
zu haben, auch um ihrer Großtuerei zu genügen, ließ sie ihm zukommen,
was er wünschte, kleidete ihn sauber und prahlerisch und unterstützte ihn
in allem, was er zu seinem Vergnügen vornahm. Er ließ sich dies gefallen
ohne viel Dankbarkeit, da ihm die Mutter viel zu viel dazu schwatzte und log; und
indem er so wenig Freude daran empfand, tat er lässig und gedankenlos, was
ihm gefiel, ohne dass dies jedoch etwas Übles war, weil er für jetzt
noch unbeschädigt war von dem Beispiele der Alten und das jugendliche
Bedürfnis fühlte, im Ganzen einfach, ruhig und leidlich tüchtig
zu sein. Er war ziemlich genau so, wie sein Vater in diesem Alter gewesen war,
und dieses flößte demselben eine unwillkürliche Achtung vor dem
Sohne ein, in welchem er mit verwirrtem Gewissen und gepeinigter Erinnerung seine
eigene Jugend achtete. Trotz dieser Freiheit, welche Sali genoss, ward er
seines Lebens doch nicht froh und fühlte wohl, wie er nichts Rechtes vor
sich hatte und ebenso wenig etwas Rechtes lernte, da von einem zusammenhängenden
und vernunftgemäßen Arbeiten in Manzens Hause längst nicht mehr die
Rede war. Sein bester Trost war daher, stolz auf seine Unabhängigkeit und
einstweilige Unbescholtenheit zu sein, und in diesem Stolze ließ er die
Tage trotzig verstreichen und wandte die Augen von der Zukunft ab.

Der einzige Zwang, dem er unterworfen, war die Feindschaft seines Vaters gegen alles,
was Marti hieß und an diesen erinnerte. Doch wusste er nichts anderes als
dass Marti seinem Vater Schaden zugefügt und dass man in dessen Hause
ebenso feindlich gesinnt sei, und es fiel ihm daher nicht schwer, weder den Marti
noch seine Tochter anzusehen und seinerseits auch einen angehenden, doch ziemlich
zahmen Feind vorzustellen. Vrenchen hingegen, welches mehr erdulden musste als
Sali und in seinem Hause viel verlassener war, fühlte sich weniger zu einer
förmlichen Feindschaft aufgelegt und glaubte sich nur verachtet von dem
wohlgekleideten und scheinbar glücklicheren Sali; deshalb verbarg sie sich
vor ihm, und wenn er irgendwo nur in der Nähe war, so entfernte sie sich
eilig, ohne dass er sich die Mühe gab, ihr nachzublicken. So kam es,
dass er das Mädchen schon seit ein paar Jahren nicht mehr in der Nähe
gesehen und gar nicht wusste, wie es aussah, seit es herangewachsen. Und doch
wunderte es ihn zuweilen ganz gewaltig, und wenn überhaupt von den Martis
gesprochen wurde, so dachte er unwillkürlich nur an die Tochter, deren
jetziges Aussehen ihm nicht deutlich und deren Andenken ihm gar nicht verhasst war.

Doch war sein Vater Manz nun der erste von den beiden Feinden, der sich nicht
mehr halten konnte und von Haus und Hof springen musste. Dieser Vortritt
rührte daher, dass er eine Frau besaß, die ihm geholfen, und einen
Sohn, der doch auch einiges mit brauchte, während Marti der einzige Verzehrer
war in seinem wackeligen Königreich, und seine Tochter durfte wohl arbeiten
wie ein Haustierchen, aber nichts gebrauchen. Manz aber wusste nichts anderes
anzufangen, als auf den Rat seiner Seldwyler Gönner in die Stadt zu ziehen und
da sich als Wirt aufzutun. Es ist immer betrüblich anzusehen, wenn ein ehemaliger
Landmann, der auf dem Felde alt geworden ist, mit den Trümmern seiner Habe in
eine Stadt zieht und da eine Schenke oder Kneipe auftut, um als letzten Rettungsanker
den freundlichen und gewandten Wirt zu machen, während es ihm nichts weniger als
freundlich zumut ist. Als die Manzen vom Hofe zogen, sah man erst, wie arm sie bereits
waren; denn sie luden lauter alten und zerfallenen Hausrat auf, dem man es ansah,
dass seit vielen Jahren nichts erneuert und angeschafft worden war. Die Frau
legte aber nichtsdestominder ihren besten Staat an, als sie sich oben auf die
Gerümpelfuhre setzte, und machte ein Gesicht voller Hoffnungen, als künftige
Stadtfrau schon mit Verachtung auf die Dorfgenossen herabsehend, welche voll Mitleid
hinter den Hecken hervor dem bedenklichen Zuge zuschauten. Denn sie nahm sich vor,
mit ihrer Liebenswürdigkeit und Klugheit die ganze Stadt zu bezaubern, und was
ihr versimpelter Mann nicht machen könne, das wolle sie schon ausrichten, wenn
sie nur erst einmal als Frau Wirtin in einem stattlichen Gasthofe säße.
Dieser Gasthof bestand aber in einer trübseligen Winkelschenke in einem
abgelegenen schmalen Gässchen, auf der eben ein anderer zugrunde gegangen
war und welche die Seldwyler dem Manz verpachteten, da er noch einige hundert Taler
einzuziehen hatte. Sie verkauften ihm auch ein paar Fässchen angemachten
Weines und das Wirtschaftsmobiliar, das aus einem Dutzend weißen geringen
Flaschen, ebenso viel Gläsern und einigen tannenen Tischen und Bänken bestand,
welche einst blutrot angestrichen gewesen und jetzt vielfältig abgescheuert waren.
Vor dem Fenster knarrte ein eiserner Reifen in einem Haken und in dem Reifen schenkte
eine blecherne Hand Rotwein aus einem Schöppchen in ein Glas. Überdies hing
ein verdorrter Busch von Stechpalme über der Haustüre, was Manz alles mit
in die Pacht bekam. Um deswillen war er nicht so wohlgemut wie seine Frau, sondern
trieb mit schlimmer Ahnung und voll Ingrimm die mageren Pferde an, welche er vom
neuen Bauern geliehen. Das letzte schäbige Knechtchen, das er gehabt, hatte
ihn schon seit einigen Wochen verlassen. Als er solcherweise abfuhr, sah er wohl,
wie Marti voll Hohn und Schadenfreude sich unfern der Straße zu schaffen machte,
fluchte ihm und hielt denselben für den alleinigen Urheber seines Unglückes.
Sali aber, sobald das Fuhrwerk im Gange war, beschleunigte seine Schritte, eilte
voraus und ging allein auf Seitenwegen nach der Stadt.

»Da wären wir!«, sagte Manz, als die Fuhre vor dem Spelunkelein anhielt.
Die Frau erschrak darüber, denn das war in der Tat ein trauriger Gasthof. Die Leute
traten eilfertig unter die Fenster und vor die Häuser, um sich den neuen Bauernwirt
anzusehen, und machten mit ihrer Seldwyler Überlegenheit mitleidig spöttische
Gesichter. Zornig und mit nassen Augen kletterte die Manzin vom Wagen herunter und lief,
ihre Zunge vorläufig wetzend, in das Haus, um sich heute vornehm nicht wieder blicken
zu lassen; denn sie schämte sich des schlechten Gerätes und der verdorbenen Betten,
welche nun abgeladen wurden. Sali schämte sich auch, aber er musste helfen und machte
mit seinem Vater einen seltsamen Verlag in dem Gässchen, auf welchem alsbald die
Kinder der Falliten herumsprangen und sich über das verlumpete Bauernpack lustig machten.
Im Hause aber sah es noch trübseliger aus und es glich einer vollkommenen
Räuberhöhle. Die Wände waren schlecht geweißtes feuchtes Mauerwerk,
außer der dunklen unfreundlichen Gaststube mit ihren ehemals blutroten Tischen
waren nur noch ein paar schlechte Kämmerchen da, und überall hatte der
ausgezogene Vorgänger den trostlosesten Schmutz und Kehricht zurückgelassen.

So war der Anfang und so ging es auch fort. Während der ersten Woche kamen, besonders
am Abend, wohl hin und wieder ein Tisch voll Leute aus Neugierde, den Bauernwirt zu sehen
und ob es da vielleicht einigen Spaß absetzte. Am Wirt hatten sie nicht viel zu
betrachten, denn Manz war ungelenk, starr, unfreundlich und melancholisch und wusste
sich gar nicht zu benehmen, wollte es auch nicht wissen. Er füllte langsam und
ungeschickt die Schöppchen, stellte sie mürrisch vor die Gäste und
versuchte etwas zu sagen, brachte aber nichts heraus. Desto eifriger warf sich nun
seine Frau ins Geschirr und hielt die Leute wirklich einige Tage zusammen, aber in
einem ganz andern Sinne, als sie meinte. Die ziemlich dicke Frau hatte sich eine eigene
Haustracht zusammengesetzt, in der sie unwiderstehlich zu sein glaubte. Zu einem
leinenen ungefärbten Landrock trug sie einen alten grünseidenen Spenser,
eine baumwollene Schürze und einen schlimmen weißen Halskragen. Von ihrem
nicht mehr dichten Haar hatte sie an den Schläfen possierliche Schnecken gewickelt
und in das Zöpfchen hinten einen hohen Kamm gesteckt. So schwänzelte und
tänzelte sie mit angestrengter Anmut herum, spitzte lächerlich das Maul,
dass es süß aussehen sollte, hüpfte elastisch an die Tische hin,
und das Glas oder den Teller mit gesalzenem Käse hinsetzend, sagte sie lächelnd:
»So so? so soli! herrlich herrlich, ihr Herren!« und solches dummes Zeug mehr;
denn obwohl sie sonst eine geschaffene Zunge hatte, so wusste sie jetzt doch nichts
Gescheites vorzubringen, da sie fremd war und die Leute nicht kannte. Die Seldwyler von
der schlechtesten Sorte, die da hockten, hielten die Hand vor den Mund, wollten vor
Lachen ersticken, stießen sich unter dem Tisch mit den Füßen und sagten:
»Potz tausig! das ist ja eine Herrliche!« »Eine Himmlische!«, sagte
ein anderer, »beim ewigen Hagel! Es ist der Mühe wert, hierher zu kommen,
so eine haben wir lang nicht gesehen!« Ihr Mann bemerkte das wohl mit finsterm
Blicke; er gab ihr einen Stoß in die Rippen und flüsterte: »Du alte Kuh!
Was machst du denn?« - »Störe mich nicht«, sagte sie unwillig,
»du alter Tolpatsch! Siehst du nicht, wie ich mir Mühe gebe und mit den
Leuten umzugehen weiß? Das sind aber nur Lumpen von deinem Anhang! Lass
mich nur machen, ich will bald fürnehmere Kundschaft hier haben!« Dies
alles war beleuchtet von einem oder zwei dünnen Talglichten; Sali, der Sohn,
aber ging hinaus in die dunkle Küche, setzte sich auf den Herd und weinte
über Vater und Mutter.

Die Gäste hatten aber das Schauspiel bald satt, welches ihnen die gute
Frau Manz gewährte, und blieben wieder, wo es ihnen wohler war und sie
über die wunderliche Wirtschaft lachen konnten; nur dann und wann erschien
ein einzelner, der ein Glas trank und die Wände angähnte, oder es kam
ausnahmsweise eine ganze Bande, die armen Leute mit einem vorübergehenden
Trubel und Lärm zu täuschen. Es ward ihnen angst und bange in dem engen
Mauerwinkel, wo sie kaum die Sonne sahen, und Manz, welcher sonst gewohnt war
tagelang in der Stadt zu liegen, fand es jetzt unerträglich zwischen diesen
Mauern. Wenn er an die freie Weite der Felder dachte, so stierte er finster
brütend an die Decke oder auf den Boden, lief unter die enge Haustüre
und wieder zurück, da die Nachbarn den bösen Wirt, wie sie ihn schon
nannten, angafften. Nun dauerte es aber nicht mehr lange und sie verarmten
gänzlich und hatten gar nichts mehr in der Hand; sie mussten, um etwas
zu essen, warten, bis einer kam und für wenig Geld etwas von dem noch
vorhandenen Wein verzehrte, und wenn er eine Wurst oder dergleichen begehrte,
so hatten sie oft die größte Angst und Sorge, dieselbe beizutreiben.
Bald hatten sie auch den Wein nur noch in einer großen Flasche verborgen,
die sie heimlich in einer anderen Kneipe füllen ließen, und so sollten
sie nun die Wirte machen ohne Wein und Brot und freundlich sein, ohne ordentlich
gegessen zu haben. Sie waren beinahe froh, wenn nur niemand kam, und hockten so
in ihrem Kneipchen, ohne leben noch sterben zu können. Als die Frau diese
traurigen Erfahrungen machte, zog sie den grünen Spenser wieder aus und nahm
abermals eine Veränderung vor, indem sie nun, wie früher die Fehler,
so nun einige weibliche Tugenden aufkommen ließ und mehr ausbildete, da Not
an den Mann ging. Sie übte Geduld und suchte den Alten aufrecht zu halten
und den Jungen zum Guten anzuweisen; sie opferte sich vielfältig in allerlei
Dingen, kurz, sie übte in ihrer Weise eine Art von wohltätigem Einfluss,
der zwar nicht weit reichte und nicht viel besserte, aber immerhin besser war als
gar nichts oder als das Gegenteil und die Zeit wenigstens verbringen half, welche
sonst viel früher hätte brechen müssen für diese Leute. Sie
wusste manchen Rat zu geben nunmehr in erbärmlichen Dingen, nach ihrem
Verstande, und wenn der Rat nichts zu taugen schien und fehlschlug, so ertrug
sie willig den Grimm der Männer, kurzum, sie tat jetzt alles, da sie alt
war, was besser gedient hätte, wenn sie es früher geübt.