
An der Mitte des Hanges stand er still, lehnte sich auf seinen Krückenstab
und starrte unverwandt auf die Lichtpunkte. Es war so still überall, so
tot und kalt; man musste an Irrlichter auf Kirchhöfen denken. Nun schlug
es zwölf im Turm; der letzte Schlag verdröhnte langsam, und im nächsten
Hause erhob sich ein leiser Gesang, der, von Hause zu Hause schwellend,
sich über das ganze Dorf zog:
Ein Kindelein so löbelich
Ist uns geboren heute,
Von einer Jungfrau säuberlich,
Des freun sich alle Leute;
Und wär das Kindelein nicht geborn,
So wären wir alle zusammen verlorn:
Das Heil ist unser aller.
O du mein liebster Jesu Christ,
Der du als Mensch geboren bist,
Erlös uns von der Hölle!
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Der Mann am Hange war in die Knie gesunken und versuchte mit zitternder
Stimme einzufallen: es ward nur ein lautes Schluchzen daraus, und schwere,
heiße Tropfen fielen in den Schnee. Die zweite Strophe begann; er betete
leise mit; dann die dritte und vierte. Das Lied war geendigt, und die
Lichter in den Häusern begannen sich zu bewegen. Da richtete der Mann
sich mühselig auf und schlich langsam hinab in das Dorf. An mehreren
Häusern keuchte er vorüber, dann stand er vor einem still und pochte
leise an.

»Was ist denn das?«, sagte drinnen eine Frauenstimme, »die Türe klappert
und der Wind geht doch nicht.« - Er pochte stärker: »Um Gotteswillen,
lasst einen halb erfrorenen Menschen ein, der aus der türkischen Sklaverei
kommt!« - Geflüster in der Küche. »Geht ins Wirtshaus«, antwortete eine
andere Stimme, »das fünfte Haus von hier!« - »Um Gottes Barmherzigkeit
willen, lasst mich ein! Ich habe kein Geld.« Nach einigem Zögern ward
die Tür geöffnet, und ein Mann leuchtete mit der Lampe hinaus. - »Kommt
nur herein«, sagte er dann, »Ihr werdet uns den Hals nicht abschneiden.«

In der Küche befanden sich außer dem Manne eine Frau in den mittleren
Jahren, eine alte Mutter und fünf Kinder. Alle drängten sich um den
Eintretenden her und musterten ihn mit scheuer Neugier. Eine armselige
Figur! Mit schiefem Halse, gekrümmtem Rücken, die ganze Gestalt
gebrochen und kraftlos; langes, schneeweißes Haar hing um sein Gesicht,
das den verzogenen Ausdruck langen Leidens trug. Die Frau ging schweigend
an den Herd und legte frisches Reisig zu. - »Ein Bett können wir Euch
nicht geben«, sagte sie, »aber ich will hier eine gute Streu machen;
Ihr müsst Euch schon so behelfen«. - »Gott's Lohn!«, versetzte der
Fremde, »ich bin's wohl schlechter gewohnt.« - Der Heimgekehrte ward
als Johannes Niemand erkannt, und er selbst bestätigte, dass er
derselbe sei, der einst mit Friedrich Mergel entflohen.

Das Dorf war am folgenden Tage voll von den Abenteuern des so lange
Verschollenen. Jeder wollte den Mann aus der Türkei sehen, und man
wunderte sich beinahe, dass er noch aussehe wie andere Menschen. Das
junge Volk hatte zwar keine Erinnerungen von ihm, aber die Alten
fanden seine Züge noch ganz wohl heraus, so erbärmlich entstellt
er auch war.

»Johannes, Johannes, was seid Ihr grau geworden!«, sagte eine
alte Frau. »Und woher habt ihr den schiefen Hals?« - »Vom Holz- und
Wassertragen in der Sklaverei«, versetzte er. - »Und was ist aus
Mergel geworden? Ihr seid doch zusammen fortgelaufen?« - »Freilich
wohl; aber ich weiß nicht, wo er ist, wir sind voneinander gekommen.
Wenn Ihr an ihn denkt, betet für ihn«, fügte er hinzu, »er wird es
wohl nötig haben.«

Man fragte ihn, warum Friedrich sich denn aus dem Staube gemacht,
da er den Juden doch nicht erschlagen? - »Nicht?«, sagte Johannes
und horchte gespannt auf, als man ihm erzählte, was der Gutsherr
geflissentlich verbreitet hatte, um den Fleck von Mergels Namen
zu löschen. - »Also ganz umsonst«, sagte er nachdenkend, »ganz
umsonst so viel ausgestanden!« Er seufzte tief und fragte nun
seinerseits nach manchem. Simon war lange tot, aber zuvor noch
ganz verarmt durch Prozesse und böse Schuldner, die er nicht
gerichtlich belangen durfte, weil es, wie man sagte, zwischen
ihnen keine reine Sache war. Er hatte zuletzt Bettelbrot gegessen
und war in einem fremden Schuppen auf dem Stroh gestorben. Margreth
hatte länger gelebt, aber in völliger Geistesstumpfheit. Die Leute
im Dorf waren es bald müde geworden, ihr beizustehen, da sie alles
verkommen ließ, was man ihr gab, wie es denn die Art der Menschen
ist, gerade die Hilflosesten zu verlassen, solche, bei denen der
Beistand nicht nachhaltig wirkt und die der Hilfe immer gleich
bedürftig bleiben. Dennoch hatte sie nicht eigentlich Not gelitten;
die Gutsherrschaft sorgte sehr für sie, schickte ihr täglich das
Essen und ließ ihr auch ärztliche Behandlung zukommen, als ihr
kümmerlicher Zustand in völlige Abzehrung übergegangen war. In
ihrem Hause wohnte jetzt der Sohn des ehemaligen Schweinehirten,
der an jenem unglücklichen Abende Friedrichs Uhr so sehr bewundert
hatte. - »Alles hin, alles tot!«, seufzte Johannes.

Am Abend, als es dunkel geworden war und der Mond schien, sah man
ihn im Schnee auf dem Kirchhofe umherhumpeln; er betete bei keinem
Grabe, ging auch an keines dicht hinan, aber auf einige schien er
aus der Ferne starre Blicke zu heften. So fand ihn der Förster
Brandis, der Sohn des Erschlagenen, den die Gutsherrschaft
abgeschickt hatte, ihn ins Schloss zu holen.

Beim Eintritt in das Wohnzimmer sah er scheu umher, wie vom Licht
geblendet, und dann auf den Baron, der sehr zusammengefallen in
seinem Lehnstuhl saß, aber noch immer mit den hellen Augen und
dem roten Käppchen auf dem Kopfe wie vor achtundzwanzig Jahren;
neben ihm die gnädige Frau, auch alt, sehr alt geworden.

»Nun, Johannes«, sagte der Gutsherr, »erzähl mir einmal recht
ordentlich von deinen Abenteuern. Aber«, er musterte ihn durch
die Brille, »du bist ja erbärmlich mitgenommen in der Türkei!« -
Johannes begann: wie Mergel ihn nachts von der Herde abgerufen
und gesagt, er müsse mit ihm fort. - »Aber warum lief der dumme
Junge denn? Du weißt doch, dass er unschuldig war?« - Johannes sah
vor sich nieder: »Ich weiß nicht recht, mich dünkt, es war wegen
Holzgeschichten. Simon hatte so allerlei Geschäfte; mir sagte man
nichts davon, aber ich glaube nicht, dass alles war, wie es sein
sollte.« - »Was hat denn Friedrich dir gesagt?« - »Nichts, als
dass wir laufen müssten, sie wären hinter uns her. So liefen wir
bis Heerse; da war es noch dunkel, und wir versteckten uns hinter
das große Kreuz am Kirchhofe, bis es etwas heller würde, weil wir
uns vor den Steinbrüchen am Zellerfelde fürchteten, und wie wir
eine Weile gesessen hatten, hörten wir mit einem Male über uns
schnauben und stampfen und sahen lange Feuerstrahlen in der Luft
gerade über dem Heerser Kirchturm. Wir sprangen auf und liefen,
was wir konnten, in Gottes Namen geradeaus, und wie es dämmerte,
waren wir wirklich auf dem rechten Wege nach P.«

Johannes schien noch vor der Erinnerung zu schaudern, und der
Gutsherr dachte an seinen seligen Kapp und dessen Abenteuer am
Heerser Hange. - »Sonderbar!«, lachte er, »so nah wart ihr einander!
Aber fahr fort.« - Johannes erzählte nun, wie sie glücklich durch P.
und über die Grenze gekommen. Von da an hatten sie sich als wandernde
Handwerksburschen durchgebettelt bis Freiburg im Breisgau. »Ich
hatte meinen Brotsack bei mir«, sagte er, »und Friedrich ein
Bündelchen; so glaubte man uns.« - In Freiburg hatten sie sich von
den Österreichern anwerben lassen; ihn hatte man nicht gewollt, aber
Friedrich bestand darauf. So kam er unter den Train. »Den Winter über
blieben wir in Freiburg«, fuhr er fort, »und es ging uns ziemlich gut;
mir auch, weil Friedrich mich oft erinnerte und mir half, wenn ich
etwas verkehrt machte. Im Frühling mussten wir marschieren, nach Ungarn,
und im Herbst ging der Krieg mit den Türken los. Ich kann nicht viel
davon nachsagen, denn ich wurde gleich in der ersten Affäre gefangen
und bin seitdem sechsundzwanzig Jahre in der türkischen Sklaverei
gewesen!« - »Gott im Himmel! Das ist doch schrecklich!«, sagte Frau
von S. - »Schlimm genug, die Türken halten uns Christen nicht
besser als Hunde; das Schlimmste war, dass meine Kräfte unter der
harten Arbeit vergingen; ich ward auch älter und sollte noch immer
tun wie vor Jahren.«

Er schwieg eine Weile. »Ja«, sagte er dann, »es ging über
Menschenkräfte und Menschengeduld; ich hielt es auch nicht aus. -
Von da kam ich auf ein holländisches Schiff.« - »Wie kamst du denn
dahin?«, fragte der Gutsherr. - »Sie fischten mich auf, aus dem
Bosporus«, versetzte Johannes. Der Baron sah ihn befremdet an
und hob den Finger warnend auf; aber Johannes erzählte weiter.
Auf dem Schiffe war es ihm nicht viel besser gegangen. »Der
Skorbut riss ein; wer nicht ganz elend war, musste über Macht
arbeiten, und das Schiffstau regierte ebenso streng wie die
türkische Peitsche. Endlich«, schloss er, »als wir nach Holland
kamen, nach Amsterdam, ließ man mich frei, weil ich unbrauchbar war,
und der Kaufmann, dem das Schiff gehörte, hatte auch Mitleiden mit
mir und wollte mich zu seinem Pförtner machen. Aber« - er schüttelte
den Kopf - »ich bettelte mich lieber durch bis hieher.« - »Das war
dumm genug«, sagte der Gutsherr. Johannes seufzte tief: »O Herr,
ich habe mein Leben zwischen Türken und Ketzern zubringen müssen;
soll ich nicht wenigstens auf einem katholischen Kirchhofe liegen?«
Der Gutsherr hatte seine Börse gezogen: »Da, Johannes, nun geh
und komm bald wieder. Du musst mir das alles noch ausführlicher
erzählen; heute ging es etwas konfus durcheinander. - Du bist
wohl noch sehr müde?« - »Sehr müde«, versetzte Johannes, »und« -
er deutete auf seine Stirn - »meine Gedanken sind zuweilen so
kurios, ich kann nicht recht sagen, wie es so ist.« - »Ich weiß
schon«, sagte der Baron, »von alter Zeit her. Jetzt geh!
Hülsmeyers behalten dich wohl noch die Nacht über, morgen komm
wieder.«

Herr von S. hatte das innigste Mitleiden mit dem armen Schelm;
bis zum folgenden Tage war überlegt worden, wo man ihn einmieten
könne; essen sollte er täglich im Schlosse, und für Kleidung fand
sich auch wohl Rat. - »Herr«, sagte Johannes, »ich kann auch noch
wohl etwas tun; ich kann hölzerne Löffel machen, und Ihr könnt
mich auch als Boten schicken.« - Herr von S. schüttelte mitleidig
den Kopf: »Das würde doch nicht sonderlich ausfallen.« - »O doch,
Herr, wenn ich erst im Gange bin - es geht nicht schnell, aber
hin komme ich doch, und es wird mir auch nicht sauer, wie man
denken sollte.« - »Nun«, sagte der Baron zweifelnd, »willst du's
versuchen? Hier ist ein Brief nach P. Es hat keine sonderliche Eile.«

Am folgenden Tage bezog Johannes sein Kämmerchen bei einer Witwe
im Dorfe. Er schnitzelte Löffel, aß auf dem Schlosse und machte
Botengänge für den gnädigen Herrn. Im ganzen ging's ihm leidlich;
die Herrschaft war sehr gütig, und Herr von S. unterhielt sich oft
lange mit ihm über die Türkei, den österreichischen Dienst und die
See. - »Der Johannes könnte viel erzählen«, sagte er zu seiner Frau,
»wenn er nicht so grundeinfältig wäre.« - »Mehr tiefsinnig als
einfältig«, versetzte sie, »ich fürchte immer, er schnappt noch
über.« - »Ei bewahre!«, antwortete der Baron, »er war sein Leben
lang ein Simpel; simple Leute werden nie verrückt.«

Nach einiger Zeit blieb Johannes auf einem Botengange über Gebühr
lange aus. Die gute Frau von S. war sehr besorgt um ihn und wollte
schon Leute aussenden, als man ihn die Treppe heraufstelzen hörte. -
»Du bist lange ausgeblieben, Johannes«, sagte sie, »ich dachte schon,
du hättest dich im Brederholz verirrt.« - »Ich bin durch den Föhrengrund
gegangen.« - »Das ist ja ein weiter Umweg; warum gingst du nicht durchs
Brederholz?« - Er sah trübe zu ihr auf: »Die Leute sagten mir, der Wald
sei gefällt, und jetzt seien so viele Kreuz- und Querwege darin, da
fürchtete ich, nicht wieder hinauszukommen. Ich werde alt und duselig«,
fügte er langsam hinzu. - »Sahst du wohl«, sagte Frau von S. nachher
zu ihrem Manne, »wie wunderlich und quer er aus den Augen sah? Ich
sage dir, Ernst, das nimmt noch ein schlimmes Ende.«

Indessen nahte der September heran. Die Felder waren leer, das Laub
begann abzufallen, und mancher Hektische fühlte die Schere an seinem
Lebensfaden. Auch Johannes schien unter dem Einflusse des nahen
Äquinoktiums zu leiden; die ihn in diesen Tagen sahen, sagen, er
habe auffallend verstört ausgesehen und unaufhörlich leise mit
sich selber geredet, was er auch sonst mitunter tat, aber selten.
Endlich kam er eines Abends nicht nach Hause. Man dachte, die
Herrschaft habe ihn verschickt; am zweiten auch nicht; am
dritten Tage ward seine Hausfrau ängstlich. Sie ging ins
Schloss und fragte nach. - »Gott bewahre«, sagte der Gutsherr,
»ich weiß nichts von ihm; aber geschwind den Jäger gerufen
und Försters Wilhelm! Wenn der armselige Krüppel«, setzte
er bewegt hinzu, »auch nur in einen trockenen Graben gefallen
ist, so kann er nicht wieder heraus. Wer weiß, ob er nicht
gar eines von seinen schiefen Beinen gebrochen hat! - Nehmt
die Hunde mit«, rief er den abziehenden Jägern nach, »und
sucht vor allem in den Gräben; seht in die Steinbrüche!«,
rief er lauter.

Die Jäger kehrten nach einigen Stunden heim; sie hatten keine
Spur gefunden. Herr von S. war in großer Unruhe: »Wenn ich mir
denke, dass einer so liegen muss wie ein Stein und kann sich nicht
helfen! Aber er kann noch leben; drei Tage hält's ein Mensch wohl
ohne Nahrung aus.« Er machte sich selbst auf den Weg; in allen
Häusern wurde nachgefragt, überall in die Hörner geblasen,
gerufen, die Hunde zum Suchen angehetzt - umsonst! - Ein Kind
hatte ihn gesehen, wie er am Rande des Brederholzes saß und an
einem Löffel schnitzelte. »Er schnitt ihn aber ganz entzwei«,
sagte das kleine Mädchen. Das war vor zwei Tagen gewesen.
Nachmittags fand sich wieder eine Spur: abermals ein Kind,
das ihn an der anderen Seite des Waldes bemerkt hatte, wo
er im Gebüsch gesessen, das Gesicht auf den Knien, als ob er
schliefe. Das war noch am vorigen Tage. Es schien, er hatte
sich immer um das Brederholz herumgetrieben.

»Wenn nur das verdammte Buschwerk nicht so dicht wäre! da kann
keine Seele hindurch«, sagte der Gutsherr. Man trieb die Hunde
in den jungen Schlag; man blies und hallote und kehrte endlich
missvergnügt heim, als man sich überzeugt, dass die Tiere den
ganzen Wald abgesucht hatten. - »Lasst nicht nach! lasst nicht
nach!«, bat Frau von S., »besser ein paar Schritte umsonst, als
dass etwas versäumt wird.« Der Baron war fast ebenso beängstigt
wie sie. Seine Unruhe trieb ihn sogar nach Johannes' Wohnung,
obwohl er sicher war, ihn dort nicht zu finden. Er ließ sich die
Kammer des Verschollenen aufschließen. Da stand sein Bett noch
ungemacht, wie er es verlassen hatte, dort hing sein guter Rock,
den ihm die gnädige Frau aus dem alten Jagdkleide des Herrn
hatte machen lassen; auf dem Tische ein Napf, sechs neue
hölzerne Löffel und eine Schachtel. Der Gutsherr öffnete sie;
fünf Groschen lagen darin, sauber in Papier gewickelt, und
vier silberne Westenknöpfe; der Gutsherr betrachtete sie
aufmerksam. »Ein Andenken von Mergel«, murmelte er und trat
hinaus, denn ihm ward ganz beengt in dem dumpfen, engen
Kämmerchen. Die Nachsuchungen wurden fortgesetzt, bis man sich
überzeugt hatte, Johannes sei nicht mehr in der Gegend, wenigstens
nicht lebendig. So war er denn zum zweiten Mal verschwunden; ob man
ihn wiederfinden würde - vielleicht einmal nach Jahren seine
Knochen in einem trockenen Graben? Ihn lebend wiederzusehen,
dazu war wenig Hoffnung, und jedenfalls nach achtundzwanzig
Jahren gewiss nicht.

Vierzehn Tage später kehrte der junge Brandis morgens von einer
Besichtigung seines Reviers durch das Brederholz heim. Es war ein
für die Jahreszeit ungewöhnlich heißer Tag, die Luft zitterte, kein
Vogel sang, nur die Raben krächzten langweilig aus den Ästen und
hielten ihre offenen Schnäbel der Luft entgegen. Brandis war sehr
ermüdet. Bald nahm er seine von der Sonne durchglühte Kappe ab,
bald setzte er sie wieder auf. Es war alles gleich unerträglich,
das Arbeiten durch den kniehohen Schlag sehr beschwerlich. Ringsumher
kein Baum außer der Judenbuche. Dahin strebte er denn auch aus allen
Kräften und ließ sich todmatt auf das beschattete Moos darunter nieder.
Die Kühle zog so angenehm durch seine Glieder, dass er die Augen schloss.
»Schändliche Pilze!«, murmelte er halb im Schlaf. Es gibt nämlich in
jener Gegend eine Art sehr saftiger Pilze, die nur ein paar Tage stehen,
dann einfallen und einen unerträglichen Geruch verbreiten. Brandis
glaubte solche unangenehmen Nachbarn zu spüren, er wandte sich ein
paarmal hin und her, mochte aber doch nicht aufstehen; sein Hund
sprang unterdessen umher, kratzte am Stamm der Buche und bellte
hinauf. »Was hast du da, Bello? Eine Katze?«, murmelte Brandis.
Er öffnete die Wimper halb, und die Judenschrift fiel ihm ins Auge,
sehr ausgewachsen, aber doch noch ganz kenntlich. Er schloss die
Augen wieder; der Hund fuhr fort zu bellen und legte endlich seinem
Herrn die kalte Schnauze ans Gesicht. - »Lass mich in Ruh! Was hast
du denn?« Hiebei sah Brandis, wie er so auf dem Rücken lag, in die
Höhe, sprang dann mit einem Satze auf und wie besessen ins Gestrüpp
hinein. Totenbleich kam er auf dem Schlosse an: in der Judenbuche
hänge ein Mensch; er habe die Beine gerade über seinem Gesichte
hängen sehen. - »Und du hast ihn nicht abgeschnitten, Esel?«, rief
der Baron. - »Herr«, keuchte Brandis, »wenn Ew. Gnaden dagewesen
wären, so wüssten Sie wohl, dass der Mensch nicht mehr lebt. Ich
glaubte anfangs, es seien die Pilze!« Dennoch trieb der Gutsherr
zur größten Eile und zog selbst mit hinaus.

Sie waren unter der Buche angelangt. »Ich sehe nichts«, sagte Herr von
S. - »Hierher müssen Sie treten, hierher, an diese Stelle!« - Wirklich,
dem war so: der Gutsherr erkannte seine eigenen abgetragenen Schuhe. -
»Gott, es ist Johannes! - Setzt die Leiter an! - So - nun herunter!
Sacht, sacht! Lasst ihn nicht fallen! - Lieber Himmel, die Würmer sind
schon daran! Macht dennoch die Schlinge auf und die Halsbinde.« Eine
breite Narbe ward sichtbar; der Gutsherr fuhr zurück. - »Mein Gott!«,
sagte er; er beugte sich wieder über die Leiche, betrachtete die
Narbe mit großer Aufmerksamkeit und schwieg eine Weile in tiefer
Erschütterung. Dann wandte er sich zu den Förstern: »Es ist nicht
recht, dass der Unschuldige für den Schuldigen leide; sagt es nur
allen Leuten: der da« - er deutete auf den Toten - »war Friedrich
Mergel.« - Die Leiche ward auf dem Schindanger verscharrt.

Dies hat sich nach allen Hauptumständen wirklich so begeben im September
des Jahres 1789. - Die hebräische Schrift an dem Baume heißt:

»Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.«