[Vierter Teil: Die Ermordung des Juden]

Vier Jahre waren verflossen; es war im Oktober; der milde Herbst von 1760,
der alle Scheunen mit Korn und alle Keller mit Wein füllte, hatte seinen
Reichtum auch über diesen Erdwinkel strömen lassen, und man sah mehr Betrunkene,
hörte von mehr Schlägereien und dummen Streichen als je. Überall gab's Lustbarkeiten;
der blaue Montag kam in Aufnahme, und wer ein paar Taler erübrigt hatte, wollte
gleich eine Frau dazu, die ihm heute essen und morgen hungern helfen könne. Da
gab es im Dorfe eine tüchtige solide Hochzeit, und die Gäste durften mehr erwarten
als eine verstimmte Geige, ein Glas Branntwein und was sie an guter Laune selber
mitbrachten. Seit früh war alles auf den Beinen; vor jeder Tür wurden Kleider
gelüftet, und B. glich den ganzen Tag einer Trödelbude. Da viele Auswärtige
erwartet wurden, wollte jeder gern die Ehre des Dorfes oben halten.

Es war sieben Uhr abends und alles in vollem Gange; Jubel und Gelächter an allen
Enden, die niederen Stuben zum Ersticken angefüllt mit blauen, roten und gelben
Gestalten, gleich Pfandställen, in denen eine zu große Herde eingepfercht ist.
Auf der Tenne ward getanzt, das heißt: wer zwei Fuß Raum erobert hatte, drehte
sich darauf immer rundum und suchte durch Jauchzen zu ersetzen, was an Bewegung
fehlte. Das Orchester war glänzend, die erste Geige als anerkannte Künstlerin
prädominierend, die zweite und eine große Bassviole mit drei Saiten von Dilettanten
ad libitum gestrichen; Branntwein und Kaffee in Überfluss, alle Gäste von Schweiß
triefend; kurz, es war ein köstliches Fest. - Friedrich stolzierte umher wie ein
Hahn, im neuen himmelblauen Rock, und machte sein Recht als erster Elegant geltend.
Als auch die Gutsherrschaft anlangte, saß er gerade hinter der Bassgeige und strich
die tiefste Saite mit großer Kraft und vielem Anstand.

»Johannes!«, rief er gebieterisch, und heran trat sein Schützling von dem Tanzplatze,
wo er auch seine ungelenken Beine zu schlenkern und eins zu jauchzen versucht hatte.
Friedrich reichte ihm den Bogen, gab durch eine stolze Kopfbewegung seinen Willen
zu erkennen und trat zu den Tanzenden. »Nun lustig, Musikanten: den Papen von
Istrup!« - Der beliebte Tanz ward gespielt, und Friedrich machte Sätze vor den
Augen seiner Herrschaft, dass die Kühe an der Tenne die Hörner zurückzogen und
Kettengeklirr und Gebrumm an ihren Ständern herlief. Fußhoch über die anderen
tauchte sein blonder Kopf auf und nieder, wie ein Hecht, der sich im Wasser
überschlägt; an allen Enden schrien Mädchen auf, denen er zum Zeichen der Huldigung
mit einer raschen Kopfbewegung sein langes Flachshaar ins Gesicht schleuderte.

»Jetzt ist es gut!«, sagte er endlich und trat schweißtriefend an den Kredenztisch,
»die gnädigen Herrschaften sollen leben und alle die hochadeligen Prinzen und
Prinzessinnen, und wer's nicht mittrinkt, den will ich an die Ohren schlagen,
dass er die Engel singen hört!« - Ein lautes Vivat beantwortete den galanten Toast.
- Friedrich machte seinen Bückling. - »Nichts für ungut, gnädige Herrschaften;
wir sind nur ungelehrte Bauersleute!« - In diesem Augenblick erhob sich ein
Getümmel am Ende der Tenne, Geschrei, Schelten, Gelächter, alles durcheinander.
»Butterdieb, Butterdieb!«, riefen ein paar Kinder, und heran drängte sich, oder
vielmehr ward geschoben Johannes Niemand, den Kopf zwischen die Schultern
ziehend und mit aller Macht nach dem Ausgange strebend. - »Was ist's? Was habt
ihr mit unserem Johannes?«, rief Friedrich gebieterisch.

»Das sollt Ihr früh genug gewahr werden«, keuchte ein altes Weib mit der
Küchenschürze und einem Wischhader in der Hand. - Schande! Johannes, der arme
Teufel, dem zu Hause das Schlechteste gut genug sein musste, hatte versucht,
sich ein halbes Pfündchen Butter für die kommende Dürre zu sichern, und ohne
daran zu denken, dass er es, sauber in sein Schnupftuch gewickelt, in der Tasche
geborgen, war er ans Küchenfeuer getreten, und nun rann das Fett schmählich
die Rockschöße entlang. - Allgemeiner Aufruhr; die Mädchen sprangen zurück,
aus Furcht, sich zu beschmutzen, oder stießen den Delinquenten vorwärts. Andere
machten Platz, sowohl aus Mitleid als Vorsicht. Aber Friedrich trat vor:
»Lumpenhund!«, rief er; ein paar derbe Maulschellen trafen den geduldigen
Schützling; dann stieß er ihn an die Tür und gab ihm einen tüchtigen Fußtritt
mit auf den Weg.

Er kehrte niedergeschlagen zurück; seine Würde war verletzt, das allgemeine
Gelächter schnitt ihm durch die Seele; ob er sich gleich durch einen tapfern
Juchheschrei wieder in den Gang zu bringen suchte - es wollte nicht mehr recht
gehen. Er war im Begriff, sich wieder hinter die Bassviole zu flüchten; doch
zuvor noch ein Knalleffekt: er zog seine silberne Taschenuhr hervor, zu jener
Zeit ein seltener und kostbarer Schmuck. »Es ist bald zehn«, sagte er. »Jetzt
den Brautmenuett! Ich will Musik machen.«

»Eine prächtige Uhr!«, sagte der Schweinehirt und schob sein Gesicht in
ehrfurchtsvoller Neugier vor. - »Was hat sie gekostet?«, rief Wilm Hülsmeyer,
Friedrichs Nebenbuhler. - »Willst du sie bezahlen?«, fragte Friedrich. - »Hast
du sie bezahlt?«, antwortete Wilm. Friedrich warf einen stolzen Blick auf ihn
und griff in schweigender Majestät zum Fiedelbogen. - »Nun, nun«, sagte
Hülsmeyer, »dergleichen hat man schon erlebt. Du weißt wohl, der Franz Ebel
hatte auch eine schöne Uhr, bis der Jude Aaron sie ihm wieder abnahm.« -
Friedrich antwortete nicht, sondern winkte stolz der ersten Violine, und sie
begannen aus Leibeskräften zu streichen.

Die Gutsherrschaft war indessen in die Kammer getreten, wo der Braut von den
Nachbarfrauen das Zeichen ihres neuen Standes, die weiße Stirnbinde, umgelegt
wurde. Das junge Blut weinte sehr, teils weil es die Sitte so wollte, teils
aus wahrer Beklemmung. Sie sollte einem verworrenen Haushalt vorstehen, unter
den Augen eines mürrischen alten Mannes, den sie noch obendrein lieben sollte.
Er stand neben ihr, durchaus nicht wie der Bräutigam des Hohen Liedes, der 'in
die Kammer tritt wie die Morgensonne'. - »Du hast nun genug geweint«, sagte er
verdrießlich; »bedenk, du bist es nicht, die mich glücklich macht, ich mache
dich glücklich!« - Sie sah demütig zu ihm auf und schien zu fühlen, dass er recht
habe. - Das Geschäft war beendigt; die junge Frau hatte ihrem Manne zugetrunken,
junge Spaßvögel hatten durch den Dreifuß geschaut, ob die Binde gerade sitze;
und man drängte sich wieder der Tenne zu, von wo unauslöschliches Gelächter und
Lärm herüberschallte. Friedrich war nicht mehr dort. Eine große, unerträgliche
Schmach hatte ihn getroffen, da der Jude Aaron, ein Schlächter und gelegentlicher
Althändler aus dem nächsten Städtchen, plötzlich erschienen war und nach einem
kurzen, unbefriedigenden Zwiegespräch ihn laut vor allen Leuten um den Betrag
von zehn Talern für eine schon um Ostern gelieferte Uhr gemahnt hatte. Friedrich
war wie vernichtet fortgegangen und der Jude ihm gefolgt, immer schreiend: »O
weh mir! Warum hab ich nicht gehört auf vernünftige Leute! Haben sie mir nicht
hundertmal gesagt, Ihr hättet all Eu'r Gut am Leibe und kein Brot im Schranke!« -
Die Tenne tobte von Gelächter; manche hatten sich auf den Hof nachgedrängt. -
»Packt den Juden! Wiegt ihn gegen ein Schwein!«, riefen einige; andere waren ernst
geworden. - »Der Friedrich sah so blass aus wie ein Tuch«, sagte eine alte Frau, und
die Menge teilte sich, wie der Wagen des Gutsherrn in den Hof lenkte.

Herr von S. war auf dem Heimwege verstimmt, die jedesmalige Folge, wenn der
Wunsch, seine Popularität aufrecht zu erhalten, ihn bewog, solchen Festen
beizuwohnen. Er sah schweigend aus dem Wagen. »Was sind denn das für ein paar
Figuren?« - Er deutete auf zwei dunkle Gestalten, die vor dem Wagen rannten wie
Strauße. Nun schlüpften sie ins Schloss. - »Auch ein paar selige Schweine aus
unserm eigenen Stall!«, seufzte Herr von S. - Zu Hause angekommen, fand er die
Hausflur vom ganzen Dienstpersonal eingenommen, das zwei Kleinknechte umstand,
welche sich blass und atemlos auf der Stiege niedergelassen hatten. Sie behaupteten,
von des alten Mergels Geist verfolgt worden zu sein, als sie durchs Brederholz
heimkehrten. Zuerst hatte es über ihnen an der Höhe gerauscht und geknistert;
darauf hoch in der Luft ein Geklapper wie von aneinander geschlagenen Stöcken;
plötzlich ein gellender Schrei und ganz deutlich die Worte: »O weh, meine arme
Seele!« hoch von oben herab. Der eine wollte auch glühende Augen durch die
Zweige funkeln gesehen haben, und beide waren gelaufen, was ihre Beine vermochten.

»Dummes Zeug!«, sagte der Gutsherr verdrießlich und trat in die Kammer, sich
umzukleiden. Am anderen Morgen wollte die Fontäne im Garten nicht springen,
und es fand sich, dass jemand eine Röhre verrückt hatte, augenscheinlich um
nach dem Kopfe eines vor vielen Jahren hier verscharrten Pferdegerippes zu
suchen, der für ein bewährtes Mittel wider allen Hexen- und Geisterspuk gilt.
»Hm«, sagte der Gutsherr, »was die Schelme nicht stehlen, das verderben die Narren.«

Drei Tage später tobte ein furchtbarer Sturm. Es war Mitternacht, aber
alles im Schlosse außer dem Bett. Der Gutsherr stand am Fenster und sah
besorgt ins Dunkle, nach seinen Feldern hinüber. An den Scheiben flogen
Blätter und Zweige her; mitunter fuhr ein Ziegel hinab und schmetterte auf
das Pflaster des Hofes. »Furchtbares Wetter!«, sagte Herr von S. Seine Frau
sah ängstlich aus. »Ist das Feuer auch gewiss gut verwahrt?«, sagte sie,
»Gretchen, sieh noch einmal nach, gieß es lieber ganz aus! - Kommt, wir
wollen das Evangelium Johannis beten.« Alles kniete nieder, und die Hausfrau
begann: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das
Wort.« - Ein furchtbarer Donnerschlag. Alle fuhren zusammen; dann furchtbares
Geschrei und Getümmel die Treppe heran. - »Um Gottes willen! Brennt es?«, rief
Frau von S. und sank mit dem Gesichte auf den Stuhl. Die Türe ward aufgerissen
und herein stürzte die Frau des Juden Aaron, bleich wie der Tod, das Haar wild
um den Kopf, von Regen triefend. Sie warf sich vor dem Gutsherrn auf die Knie.
»Gerechtigkeit!«, rief sie, »Gerechtigkeit! Mein Mann ist erschlagen!«, und sank
ohnmächtig zusammen.

Es war nur zu wahr, und die nachfolgende Untersuchung bewies, dass der Jude
Aaron durch einen Schlag an die Schläfe mit einem stumpfen Instrumente,
wahrscheinlich einem Stabe, sein Leben verloren hatte, durch einen einzigen
Schlag. An der linken Schläfe war der blaue Fleck, sonst keine Verletzung zu
finden. Die Aussagen der Jüdin und ihres Knechtes Samuel lauteten so: Aaron
war vor drei Tagen am Nachmittag ausgegangen, um Vieh zu kaufen, und hatte
dabei gesagt, er werde wohl über Nacht ausbleiben, da noch einige böse Schuldner
in B. und S. zu mahnen seien. In diesem Falle werde er in B. beim Schlächter
Salomon übernachten. Als er am folgenden Tage nicht heimkehrte, war seine Frau
sehr besorgt geworden und hatte sich endlich heute um drei nachmittags in
Begleitung ihres Knechtes und des großen Schlächterhundes auf den Weg gemacht.
Beim Juden Salomon wusste man nichts von Aaron; er war gar nicht da gewesen.
Nun waren sie zu allen Bauern gegangen, von denen sie wussten, dass Aaron einen
Handel mit ihnen im Auge hatte. Nur zwei hatten ihn gesehen, und zwar an
demselben Tage, an welchem er ausgegangen. Es war darüber sehr spät geworden.
Die große Angst trieb das Weib nach Haus, wo sie ihren Mann wiederzufinden
eine schwache Hoffnung nährte. So waren sie im Brederholz vom Gewitter
überfallen worden und hatten unter einer großen am Berghange stehenden
Buche Schutz gesucht; der Hund hatte unterdessen auf eine auffallende
Weise umhergestöbert und sich endlich, trotz allem Locken, im Walde
verlaufen. Mit einem Male sieht die Frau beim Leuchten des Blitzes
etwas Weißes neben sich im Moose. Es ist der Stab ihres Mannes,
und fast im selben Augenblicke bricht der Hund durchs Gebüsch
und trägt etwas im Maule: es ist der Schuh ihres Mannes. Nicht
lange, so ist in einem mit dürrem Laube gefüllten Graben der
Leichnam des Juden gefunden. - Dies war die Angabe des Knechtes,
von der Frau nur im allgemeinen unterstützt; ihre übergroße Spannung
hatte nachgelassen, und sie schien jetzt halb verwirrt oder vielmehr
stumpfsinnig. - »Aug um Auge, Zahn um Zahn!«, dies waren die einzigen
Worte, die sie zuweilen hervorstieß.

In derselben Nacht noch wurden die Schützen aufgeboten, um Friedrich
zu verhaften. Der Anklage bedurfte es nicht, da Herr von S. selbst
Zeuge eines Auftritts gewesen war, der den dringendsten Verdacht auf
ihn werfen musste; zudem die Gespenstergeschichte von jenem Abende,
das Aneinanderschlagen der Stäbe im Brederholz, der Schrei aus der
Höhe. Da der Amtsschreiber gerade abwesend war, so betrieb Herr von
S. selbst alles rascher, als sonst geschehen wäre. Dennoch begann
die Dämmerung bereits anzubrechen, bevor die Schützen so geräuschlos
wie möglich das Haus der armen Margreth umstellt hatten. Der Gutsherr
selber pochte an; es währte kaum eine Minute, bis geöffnet ward und
Margreth völlig gekleidet in der Türe erschien. Herr von S. fuhr
zurück; er hätte sie fast nicht erkannt, so blass und steinern sah
sie aus. »Wo ist Friedrich?«, fragte er mit unsicherer Stimme. -
»Sucht ihn«, antwortete sie und setzte sich auf einen Stuhl. Der
Gutsherr zögerte noch einen Augenblick. »Herein, herein!«, sagte er
dann barsch, »worauf warten wir?« Man trat in Friedrichs Kammer.
Er war nicht da, aber das Bett noch warm. Man stieg auf den Söller,
in den Keller, stieß ins Stroh, schaute hinter jedes Fass, sogar in
den Backofen; er war nicht da. Einige gingen in den Garten, sahen
hinter den Zaun und in die Apfelbäume hinauf; er war nicht zu finden. -
»Entwischt!«, sagte der Gutsherr mit sehr gemischten Gefühlen; der
Anblick der alten Frau wirkte gewaltig auf ihn. »Gebt den Schlüssel
zu jenem Koffer.« - Margreth antwortete nicht. - »Gebt den Schlüssel!«,
wiederholte der Gutsherr und merkte jetzt erst, dass der Schlüssel
steckte. Der Inhalt des Koffers kam zum Vorschein: des Entflohenen
gute Sonntagskleider und seiner Mutter ärmlicher Staat; dann zwei
Leichenhemden mit schwarzen Bändern, das eine für einen Mann, das
andere für eine Frau gemacht. Herr von S. war tief erschüttert.
Ganz zuunterst auf dem Boden des Koffers lag die silberne Uhr und
einige Schriften von sehr leserlicher Hand; eine derselben von
einem Manne unterzeichnet, den man in starkem Verdacht der
Verbindung mit den Holzfrevlern hatte. Herr von S. nahm sie mit
zur Durchsicht, und man verließ das Haus, ohne dass Margreth ein
anderes Lebenszeichen von sich gegeben hätte, als dass sie unaufhörlich
die Lippen nagte und mit den Augen zwinkerte.

Im Schlosse angelangt, fand der Gutsherr den Amtsschreiber, der schon
am vorigen Abend heimgekommen war und behauptete, die ganze Geschichte
verschlafen zu haben, da der gnädige Herr nicht nach ihm geschickt. -
»Sie kommen immer zu spät«, sagte Herr von S. verdrießlich. »War denn
nicht irgendein altes Weib im Dorfe, das ihrer Magd die Sache erzählte?
Und warum weckte man Sie dann nicht?« - »Gnädiger Herr«, versetzte Kapp,
»allerdings hat meine Anne Marie den Handel um eine Stunde früher erfahren
als ich; aber sie wusste, dass Ihro Gnaden die Sache selbst leiteten, und
dann«, fügte er mit klagender Miene hinzu, »dass ich so todmüde war!« -
»Schöne Polizei!«, murmelte der Gutsherr, »jede alte Schachtel im Dorf
weiß Bescheid, wenn es recht geheim zugehen soll.« Dann fuhr er heftig
fort: »Das müsste wahrhaftig ein dummer Teufel von Delinquenten sein,
der sich packen ließe!«

Beide schwiegen eine Weile. »Mein Fuhrmann hatte sich in der Nacht verirrt«,
hob der Amtsschreiber wieder an, ȟber eine Stunde lang hielten wir im Walde;
es war ein Mordwetter; ich dachte, der Wind werde den Wagen umreißen. Endlich,
als der Regen nachließ, fuhren wir in Gottes Namen darauf los, immer in das
Zellerfeld hinein, ohne eine Hand vor den Augen zu sehen.
Da sagte der
Kutscher: 'Wenn wir nur nicht den Steinbrüchen zu nahe kommen!' Mir war
selbst bange; ich ließ halten und schlug Feuer, um wenigstens etwas Unterhaltung
an meiner Pfeife zu haben. Mit einem Male hörten wir ganz nah, perpendikulär
unter uns die Glocke schlagen. Euer Gnaden mögen glauben, dass mir fatal
zumute wurde. Ich sprang aus dem Wagen, denn seinen eigenen Beinen kann
man trauen, aber denen der Pferde nicht. So stand ich, in Kot und Regen,
ohne mich zu rühren, bis es gottlob sehr bald anfing zu dämmern. Und wo
hielten wir? Dicht an der Heerser Tiefe und den Turm von Heerse gerade
unter uns. Wären wir noch zwanzig Schritt weiter gefahren, wir wären
alle Kinder des Todes gewesen.« - »Das war in der Tat kein Spaß«,
versetzte der Gutsherr, halb versöhnt.

Er hatte unterdessen die mitgenommenen Papiere durchgesehen. Es waren
Mahnbriefe um geliehene Gelder, die meisten von Wucherern. - »Ich hätte
nicht gedacht«, murmelte er, »dass die Mergels so tief drin steckten.« -
»Ja, und dass es so an den Tag kommen muss«, versetzte Kapp, »das wird
kein kleiner Ärger für Frau Margreth sein.« - »Ach Gott, die denkt
jetzt daran nicht!« Mit diesen Worten stand der Gutsherr auf und
verließ das Zimmer, um mit Herrn Kapp die gerichtliche Leichenschau
vorzunehmen. - Die Untersuchung war kurz, gewaltsamer Tod erwiesen, der
vermutliche Täter entflohen, die Anzeichen gegen ihn zwar gravierend,
doch ohne persönliches Geständnis nicht beweisend, seine Flucht allerdings
sehr verdächtig. So musste die gerichtliche Verhandlung ohne genügenden
Erfolg geschlossen werden.

Die Juden der Umgegend hatten großen Anteil gezeigt. Das Haus der Witwe ward nie leer von Jammernden
und Ratenden. Seit Menschengedenken waren nicht so viel Juden beisammen in L. gesehen worden.
Durch den Mord ihres Glaubensgenossen aufs Äußerste erbittert, hatten sie weder Mühe noch Geld gespart,
dem Täter auf die Spur zu kommen. Man weiß sogar, dass einer derselben, gemeinhin der Wucherjoel
genannt, einem seiner Kunden, der ihm mehrere Hunderte schuldete und den er für einen besonders
listigen Kerl hielt, Erlass der ganzen Summe angeboten hatte, falls er ihm zur Verhaftung des
Mergel verhelfen wolle; denn der Glaube war allgemein unter den Juden, dass der Täter nur mit
guter Beihilfe entwischt und wahrscheinlich noch in der Umgegend sei. Als dennoch alles
nichts half und die gerichtliche Verhandlung für beendet erklärt worden war, erschien am
nächsten Morgen eine Anzahl der angesehensten Israeliten im Schlosse, um dem gnädigen
Herrn einen Handel anzutragen. Der Gegenstand war die Buche, unter der Aarons Stab
gefunden und wo der Mord wahrscheinlich verübt worden war. - »Wollt ihr sie fällen?
So mitten im vollen Laube?«, fragte der Gutsherr. - »Nein, Ihro Gnaden, sie muss
stehen bleiben im Winter und Sommer, solange ein Span daran ist.« - »Aber, wenn
ich nun den Wald hauen lasse, so schadet es dem jungen Aufschlag.« - »Wollen
wir sie doch nicht um gewöhnlichen Preis.« Sie boten zweihundert Taler. Der
Handel ward geschlossen und allen Förstern streng eingeschärft, die
Judenbuche auf keine Weise zu schädigen. - Darauf sah man an einem Abende
wohl gegen sechzig Juden, ihren Rabbiner an der Spitze, in das Brederholz
ziehen, alle schweigend und mit gesenkten Augen. - Sie blieben über eine
Stunde im Walde und kehrten dann ebenso ernst und feierlich zurück, durch
das Dorf B. bis in das Zellerfeld, wo sie sich zerstreuten und jeder seines
Weges ging. - Am nächsten Morgen stand an der Buche mit dem Beil eingehauen:

Und wo war Friedrich? Ohne Zweifel fort, weit genug, um die kurzen Arme
einer so schwachen Polizei nicht mehr fürchten zu dürfen. Er war bald
verschollen, vergessen. Ohm Simon redete selten von ihm, und dann schlecht;
die Judenfrau tröstete sich am Ende und nahm einen anderen Mann. Nur die
arme Margreth blieb ungetröstet.

Etwa ein halbes Jahr nachher las der Gutsherr einige eben erhaltene Briefe in Gegenwart
des Amtsschreibers. - »Sonderbar, sonderbar!«, sagte er. »Denken Sie sich, Kapp, der
Mergel ist vielleicht unschuldig an dem Morde. Soeben schreibt mir der Präsident
des Gerichtes zu P.: 'Le vrai n'est pas toujours vraisemblable'; das erfahre
ich oft in meinem Berufe und jetzt neuerdings. Wissen Sie wohl, dass Ihr lieber
Getreuer, Friedrich Mergel, den Juden mag ebenso wenig erschlagen haben als ich oder
Sie? Leider fehlen die Beweise, aber die Wahrscheinlichkeit ist groß. Ein Mitglied
der Schlemming'schen Bande (die wir jetzt, nebenbei gesagt, größtenteils unter
Schloss und Riegel haben), Lumpenmoises genannt, hat im letzten Verhöre ausgesagt,
dass ihn nichts so sehr gereue als der Mord eines Glaubensgenossen, Aaron, den
er im Walde erschlagen und doch nur sechs Groschen bei ihm gefunden habe. Leider
ward das Verhör durch die Mittagsstunde unterbrochen, und während wir tafelten,
hat sich der Hund von einem Juden an seinem Strumpfband erhängt. Was sagen Sie
dazu? Aaron ist zwar ein verbreiteter Name usw.« - »Was sagen Sie dazu?«,
wiederholte der Gutsherr, »und weshalb wäre der Esel von einem Burschen
denn gelaufen?« - Der Amtsschreiber dachte nach. - »Nun, vielleicht der Holzfrevel
wegen, mit denen wir ja gerade in Untersuchung waren. Heißt es nicht: der Böse
läuft vor seinem eigenen Schatten? Mergels Gewissen war schmutzig genug auch
ohne diesen Flecken.«

Dabei beruhigte man sich. Friedrich war hin, verschwunden und - Johannes Niemand,
der arme, unbeachtete Johannes, am gleichen Tage mit ihm. - -