[Zweiter Teil: Im Dienst des Onkels]

Er war zwölf Jahre alt, als seine Mutter einen Besuch von ihrem jüngeren Bruder
erhielt, der in Brede wohnte und seit der törichten Heirat seiner Schwester ihre
Schwelle nicht betreten hatte. Simon Semmler war ein kleiner, unruhiger, magerer
Mann mit vor dem Kopf liegenden Fischaugen und überhaupt einem Gesicht wie ein
Hecht, ein unheimlicher Geselle, bei dem dicktuende Verschlossenheit oft mit ebenso
gesuchter Treuherzigkeit wechselte, der gern einen aufgeklärten Kopf vorgestellt
hätte und stattdessen für einen fatalen, Händel suchenden Kerl galt, dem jeder
umso lieber aus dem Wege ging, je mehr er in das Alter trat, wo ohnehin beschränkte
Menschen leicht an Ansprüchen gewinnen, was sie an Brauchbarkeit verlieren. Dennoch
freute sich die arme Margreth, die sonst keinen der Ihrigen mehr am Leben hatte.

»Simon, bist du da?«, sagte sie und zitterte, dass sie sich am Stuhle halten musste.
»Willst du sehen, wie es mir geht und meinem schmutzigen Jungen? - Simon betrachtete
sie ernst und reichte ihr die Hand: »Du bist alt geworden, Margreth!« - Margreth
seufzte: »Es ist mir derweil oft bitterlich gegangen mit allerlei Schicksalen.« -
»Ja, Mädchen, zu spät gefreit hat immer gereut! Jetzt bist du alt, und das Kind
ist klein. Jedes Ding hat seine Zeit. Aber wenn ein altes Haus brennt, dann hilft
kein Löschen.« - Über Margreths vergrämtes Gesicht flog eine Flamme, so rot wie Blut.

»Aber ich höre, dein Junge ist schlau und gewichst«, fuhr Simon fort. - »Ei nun,
so ziemlich, und dabei fromm.« - »Hum, 's hat mal einer eine Kuh gestohlen, der hieß
auch Fromm. Aber er ist still und nachdenklich, nicht wahr? Er läuft nicht mit den
anderen Buben?« - »Er ist ein eigenes Kind«, sagte Margreth wie für sich, »es ist
nicht gut.« - Simon lachte hell auf: »Dein Junge ist scheu, weil ihn die anderen ein
paarmal gut durchgedroschen haben. Das wird ihnen der Bursche schon wieder bezahlen.
Hülsmeyer war neulich bei mir, der sagte: »Es ist ein Junge wie 'n Reh.«

Welcher Mutter geht das Herz nicht auf, wenn sie ihr Kind loben hört? Der armen
Margreth ward selten so wohl, jedermann nannte ihren Jungen tückisch und verschlossen.
Die Tränen traten ihr in die Augen. »Ja, gottlob, er hat gerade Glieder.« - »Wie
sieht er aus?«, fuhr Simon fort. - »Er hat viel von dir, Simon, viel.«

Simon lachte: »Ei, das muss ein rarer Kerl sein, ich werde alle Tage schöner. An der
Schule soll er sich wohl nicht verbrennen. Du lässt ihn die Kühe hüten? Ebenso gut. Es
ist doch nicht halb wahr, was der Magister sagt. Aber wo hütet er? Im Telgengrund?
im Roderholze? im Teutoburger Wald? auch des Nachts und früh?« - »Die ganzen Nächte
durch; aber wie meinst du das?«

Simon schien dies zu überhören; er reckte den Hals zur Türe hinaus: »Ei, da
kommt der Gesell! Vaterssohn! Er schlenkert gerade so mit den Armen wie dein
seliger Mann. Und schau mal an! Wahrhaftig, der Junge hat meine blonden Haare!«

In der Mutter Züge kam ein heimliches, stolzes Lächeln; ihres Friedrichs
blonde Locken und Simons rötliche Bürsten! Ohne zu antworten, brach sie einen
Zweig von der nächsten Hecke und ging ihrem Sohne entgegen, scheinbar, eine
träge Kuh anzutreiben, im Grunde aber, ihm einige rasche, halb drohende Worte
zuzuraunen; denn sie kannte seine störrische Natur, und Simons Weise war ihr
heute einschüchternder vorgekommen als je. Doch ging alles über Erwarten gut;
Friedrich zeigte sich weder verstockt noch frech, vielmehr etwas blöde und sehr
bemüht, dem Ohm zu gefallen. So kam es denn dahin, dass nach einer halbstündigen
Unterredung Simon eine Art Adoption des Knaben in Vorschlag brachte, vermöge
deren er denselben zwar nicht gänzlich seiner Mutter entziehen, aber doch über
den größten Teil seiner Zeit verfügen wollte, wofür ihm dann am Ende des alten
Junggesellen Erbe zufallen solle, das ihm freilich ohnedies nicht entgehen konnte.
Margreth ließ sich geduldig auseinandersetzen, wie groß der Vorteil, wie gering
die Entbehrung ihrerseits bei dem Handel sei. Sie wusste am besten, was eine
kränkliche Witwe an der Hilfe eines zwölfjährigen Knaben entbehrt, den sie
bereits gewöhnt hat, die Stelle einer Tochter zu ersetzen. Doch sie schwieg
und gab sich in alles. Nur bat sie den Bruder, streng, doch nicht hart
gegen den Knaben zu sein.

»Er ist gut«, sagte sie, »aber ich bin eine einsame Frau; mein Kind ist nicht
wie einer, über den Vaterhand regiert hat.« Simon nickte schlau mit dem Kopf:
»Lass mich nur gewähren, wir wollen uns schon vertragen, und weißt du was?
Gib mir den Jungen gleich mit, ich habe zwei Säcke aus der Mühle zu holen;
der kleinste ist ihm grad recht, und so lernt er mir zur Hand gehen. Komm,
Fritzchen, zieh deine Holzschuh an!« - Und bald sah Margreth den beiden nach,
wie sie fortschritten, Simon voran, mit seinem Gesicht die Luft durchschneidend,
während ihm die Schöße des roten Rocks wie Feuerflammen nachzogen. So hatte er
ziemlich das Ansehen eines feurigen Mannes, der unter dem gestohlenen Sacke
büßt; Friedrich ihm nach, fein und schlank für sein Alter, mit zarten, fast
edlen Zügen und langen, blonden Locken, die besser gepflegt waren, als sein
übriges Äußere erwarten ließ; übrigens zerlumpt, sonneverbrannt und mit dem
Ausdruck der Vernachlässigung und einer gewissen rohen Melancholie in den
Zügen. Dennoch war eine große Familienähnlichkeit beider nicht zu verkennen,
und wie Friedrich so langsam seinem Führer nachtrat, die Blicke fest auf
denselben geheftet, der ihn gerade durch das Seltsame seiner Erscheinung anzog,
erinnerte er unwillkürlich an jemand, der in einem Zauberspiegel das Bild
seiner Zukunft mit verstörter Aufmerksamkeit betrachtet.

Jetzt nahten die beiden sich der Stelle des Teutoburger Waldes, wo das Brederholz
den Abhang des Gebirges niedersteigt und einen sehr dunkeln Grund ausfüllt. Bis
jetzt war wenig gesprochen worden. Simon schien nachdenkend, der Knabe zerstreut,
und beide keuchten unter ihren Säcken. Plötzlich fragte Simon: »Trinkst du gern
Branntwein?« - Der Knabe antwortete nicht. »Ich frage, trinkst du gern Branntwein?
Gibt dir die Mutter zuweilen welchen?« - »Die Mutter hat selbst keinen«, sagte
Friedrich. - »So, so, desto besser! - Kennst du das Holz da vor uns?« - »Das ist
das Brederholz.« - »Weißt du auch, was darin vorgefallen ist?« - Friedrich schwieg.
Indessen kamen sie der düstern Schlucht immer näher. »Betet die Mutter noch so viel?«,
hob Simon wieder an. - »Ja, jeden Abend zwei Rosenkränze.« - »So? Und du betest mit?« -
Der Knabe lachte halb verlegen mit einem durchtriebenen Seitenblick. - »Die Mutter
betet in der Dämmerung vor dem Essen den einen Rosenkranz, dann bin ich meist noch
nicht wieder da mit den Kühen, und den andern im Bette, dann schlaf ich gewöhnlich
ein.« - »So, so, Geselle!« - Diese letzten Worte wurden unter dem Schirme einer
weiten Buche gesprochen, die den Eingang der Schlucht überwölbte. Es war jetzt
ganz finster; das erste Mondviertel stand am Himmel, aber seine schwachen Schimmer
dienten nur dazu, den Gegenständen, die sie zuweilen durch eine Lücke der Zweige
berührten, ein fremdartiges Ansehen zu geben. Friedrich hielt sich dicht hinter
seinem Ohm; sein Odem ging schnell, und wer seine Züge hätte unterscheiden können,
würde den Ausdruck einer ungeheuren, doch mehr phantastischen als furchtsamen
Spannung darin wahrgenommen haben. So schritten beide rüstig voran, Simon mit
dem festen Schritt des abgehärteten Wanderers, Friedrich schwankend und wie im
Traum. Es kam ihm vor, als ob alles sich bewegte und die Bäume in den einzelnen
Mondstrahlen bald zusammen, bald voneinander schwankten. Baumwurzeln und schlüpfrige
Stellen, wo sich das Wegwasser gesammelt, machten seinen Schritt unsicher; er
war einige Male nahe daran, zu fallen. Jetzt schien sich in einiger Entfernung
das Dunkel zu brechen, und bald traten beide in eine ziemlich große Lichtung.
Der Mond schien klar hinein und zeigte, dass hier noch vor kurzem die Axt
unbarmherzig gewütet hatte. Überall ragten Baumstümpfe hervor, manche mehrere
Fuß über der Erde, wie sie gerade in der Eile am bequemsten zu durchschneiden
gewesen waren; die verpönte Arbeit musste unversehens unterbrochen worden sein,
denn eine Buche lag quer über dem Pfad, in vollem Laube, ihre Zweige hoch über
sich streckend und im Nachtwinde mit den noch frischen Blättern zitternd. Simon
blieb einen Augenblick stehen und betrachtete den gefällten Stamm mit Aufmerksamkeit.
In der Mitte der Lichtung stand eine alte Eiche, mehr breit als hoch; ein blasser
Strahl, der durch die Zweige auf ihren Stamm fiel, zeigte, dass er hohl sei, was
ihn wahrscheinlich vor der allgemeinen Zerstörung geschützt hatte. Hier ergriff
Simon plötzlich des Knaben Arm.

»Friedrich, kennst du den Baum? Das ist die breite Eiche.« - Friedrich fuhr
zusammen und klammerte sich mit kalten Händen an seinen Ohm. »Sieh«, fuhr
Simon fort, »hier haben Ohm Franz und der Hülsmeyer deinen Vater gefunden,
als er in der Betrunkenheit ohne Buße und Ölung zum Teufel gefahren war.« -
»Ohm, Ohm!«, keuchte Friedrich. - »Was fällt dir ein? Du wirst dich doch nicht
fürchten? Satan von einem Jungen, du kneipst mir den Arm! Lass los, los!« - Er
suchte den Knaben abzuschütteln. - »Dein Vater war übrigens eine gute Seele;
Gott wird's nicht so genau mit ihm nehmen. Ich hatt' ihn so lieb wie meinen
eigenen Bruder.« - Friedrich ließ den Arm seines Ohms los; beide legten
schweigend den übrigen Teil des Waldes zurück, und das Dorf Brede lag vor ihnen
mit seinen Lehmhütten und den einzelnen bessern Wohnungen von Ziegelsteinen, zu
denen auch Simons Haus gehörte.

Am nächsten Abend saß Margreth schon seit einer Stunde mit ihrem Rocken vor der
Tür und wartete auf ihren Knaben. Es war die erste Nacht, die sie zugebracht
hatte, ohne den Atem ihres Kindes neben sich zu hören, und Friedrich kam noch
immer nicht. Sie war ärgerlich und ängstlich und wusste, dass sie beides ohne
Grund war. Die Uhr im Turm schlug sieben, das Vieh kehrte heim; er war noch
immer nicht da, und sie musste aufstehen, um nach den Kühen zu schauen. Als sie
wieder in die dunkle Küche trat, stand Friedrich am Herde; er hatte sich vornüber
gebeugt und wärmte die Hände an den Kohlen. Der Schein spielte auf seinen Zügen
und gab ihnen ein widriges Ansehen von Magerkeit und ängstlichem Zucken. Margreth
blieb in der Tennentür stehen, so seltsam verändert kam ihr das Kind vor.

»Friedrich, wie geht's dem Ohm?« Der Knabe murmelte einige unverständliche Worte
und drängte sich dicht an die Feuermauer. - »Friedrich, hast du das Reden verlernt?
Junge, tu das Maul auf! Du weißt ja doch, dass ich auf dem rechten Ohr nicht gut höre.« -
Das Kind erhob seine Stimme und geriet dermaßen ins Stammeln, dass Margreth es um
nichts mehr begriff. - »Was sagst du? Einen Gruß von Meister Semmler? Wieder fort?
Wohin? Die Kühe sind schon zu Hause. Verfluchter Junge, ich kann dich nicht
verstehen. Wart, ich muss einmal sehen, ob du keine Zunge im Munde hast!« - Sie
trat heftig einige Schritte vor. Das Kind sah zu ihr auf mit dem Jammerblick
eines armen, halbwüchsigen Hundes, der Schildwacht stehen lernt, und begann in
der Angst mit den Füßen zu stampfen und den Rücken an der Feuermauer zu reiben.

Margreth stand still; ihre Blicke wurden ängstlich. Der Knabe erschien ihr
wie zusammengeschrumpft, auch seine Kleider waren nicht dieselben, nein, das
war ihr Kind nicht! und dennoch -. »Friedrich, Friedrich!«, rief sie.

In der Schlafkammer klappte eine Schranktür, und der Gerufene trat hervor, in
der einen Hand eine sogenannte Holschenvioline, das heißt einen alten Holzschuh,
mit drei bis vier zerschabten Geigensaiten überspannt, in der anderen einen Bogen,
ganz des Instrumentes würdig. So ging er gerade auf sein verkümmertes Spiegelbild
zu, seinerseits mit einer Haltung bewusster Würde und Selbstständigkeit, die in
diesem Augenblicke den Unterschied zwischen beiden sonst merkwürdig ähnlichen
Knaben stark hervortreten ließ.

»Da, Johannes!«, sagte er und reichte ihm mit einer Gönnermiene das Kunstwerk,
»da ist die Violine, die ich dir versprochen habe. Mein Spielen ist vorbei,
ich muss jetzt Geld verdienen.« - Johannes warf noch einmal einen scheuen
Blick auf Margreth, streckte dann langsam seine Hand aus, bis er das Dargebotene
fest ergriffen hatte, und brachte es wie verstohlen unter die Flügel seines
armseligen Jäckchens.

Margreth stand ganz still und ließ die Kinder gewähren. Ihre Gedanken hatten
eine andere, sehr ernste Richtung genommen, und sie blickte mit unruhigem Auge
von einem auf den andern. Der fremde Knabe hatte sich wieder über die Kohlen
gebeugt mit einem Ausdruck augenblicklichen Wohlbehagens, der an Albernheit
grenzte, während in Friedrichs Zügen der Wechsel eines offenbar mehr selbstischen
als gutmütigen Mitgefühls spielte und sein Auge in fast glasartiger Klarheit
zum ersten Male bestimmt den Ausdruck jenes ungebändigten Ehrgeizes und Hanges
zum Großtun zeigte, der nachher als so starkes Motiv seiner meisten Handlungen
hervortrat. Der Ruf seiner Mutter störte ihn aus Gedanken, die ihm ebenso neu
als angenehm waren. Sie saß wieder am Spinnrade.

»Friedrich«, sagte sie zögernd, »sag einmal -«, und schwieg dann. Friedrich sah
auf und wandte sich, da er nichts weiter vernahm, wieder zu seinem Schützling. -
»Nein, höre -«, und dann leiser: »Was ist das für ein Junge? Wie heißt er?« -
Friedrich antwortete ebenso leise: »Das ist des Ohms Simon Schweinehirt, der
eine Botschaft an den Hülsmeyer hat. Der Ohm hat mir ein paar Schuhe und eine
Weste von Drillich gegeben, die hat mir der Junge unterwegs getragen; dafür
hab ich ihm meine Violine versprochen; er ist ja doch ein armes Kind; Johannes
heißt er.« - »Nun?«, sagte Margreth. - »Was willst du, Mutter?« - »Wie heißt er
weiter? - »Ja - weiter nicht - oder warte - doch: Niemand, Johannes Niemand
heißt er. - Er hat keinen Vater«, fügte er leiser hinzu.

Margreth stand auf und ging in die Kammer. Nach einer Weile kam sie heraus
mit einem harten, finstern Ausdruck in den Mienen. »So, Friedrich«, sagte sie,
»lass den Jungen gehen, dass er seine Bestellung machen kann. - Junge, was
liegst du da in der Asche? Hast du zu Hause nichts zu tun?« - Der Knabe
raffte sich mit der Miene eines Verfolgten so eilfertig auf, dass ihm alle
Glieder im Wege standen und die Holschenvioline bei einem Haar ins Feuer
gefallen wäre. - »Warte, Johannes«, sagte Friedrich stolz, »ich will dir
mein halbes Butterbrot geben, es ist mir doch zu groß, die Mutter schneidet
allemal übers ganze Brot.« - »Lass doch«, sagte Margreth, »er geht ja nach
Hause.« - »Ja, aber er bekommt nichts mehr; Ohm Simon isst um sieben Uhr.« Margreth
wandte sich zu dem Knaben: »Hebt man dir nichts auf? Sprich: wer sorgt für
dich?« - »Niemand«, stotterte das Kind. - »Niemand?«, wiederholte sie; »da
nimm, nimm!«, fügte sie heftig hinzu, »du heißt Niemand und niemand sorgt
für dich! Das sei Gott geklagt! Und nun mach dich fort! Friedrich, geh
nicht mit ihm, hörst du, geht nicht zusammen durchs Dorf.« - »Ich will
ja nur Holz holen aus dem Schuppen«, antwortete Friedrich. - Als beide
Knaben fort waren, warf sich Margreth auf einen Stuhl und schlug die
Hände mit dem Ausdruck des tiefsten Jammers zusammen. Ihr Gesicht war
bleich wie ein Tuch. »Ein falscher Eid, ein falscher Eid!«, stöhnte sie.
»Simon, Simon, wie willst du vor Gott bestehen!«

So saß sie eine Weile, starr mit geklemmten Lippen, wie in völliger
Geistesabwesenheit. Friedrich stand vor ihr und hatte sie schon zweimal
angeredet. »Was ist's? Was willst du?«, rief sie auffahrend. - »Ich bringe
Euch Geld«, sagte er, mehr erstaunt als erschreckt. - »Geld? Wo?« Sie
regte sich, und die kleine Münze fiel klingend auf den Boden. Friedrich
hob sie auf. - »Geld vom Ohm Simon, weil ich ihm habe arbeiten helfen.
Ich kann mir nun selber was verdienen.« - »Geld vom Simon? Wirf's fort,
fort! - Nein, gib's den Armen. Doch nein, behalt's«, flüsterte sie kaum
hörbar, »wir sind selber arm; wer weiß, ob wir bei dem Betteln vorbeikommen!« -
»Ich soll Montag wieder zum Ohm und ihm bei der Einsaat helfen.« -
»Du wieder zu ihm? Nein, nein, nimmermehr!« - Sie umfasste ihr Kind
mit Heftigkeit. - »Doch«, fügte sie hinzu, und ein Tränenstrom stürzte
ihr plötzlich über die eingefallenen Wangen, »geh, er ist mein einziger
Bruder, und die Verleumdung ist groß! Aber halt Gott vor Augen und
vergiss das tägliche Gebet nicht!«

Margreth legte das Gesicht an die Mauer und weinte laut. Sie hatte manche
harte Last getragen, ihres Mannes üble Behandlung, noch schwerer seinen
Tod, und es war eine bittere Stunde, als die Witwe das letzte Stück
Ackerland einem Gläubiger zur Nutznießung überlassen musste und der Pflug
vor ihrem Hause stillestand. Aber so war ihr nie zumute gewesen; dennoch,
nachdem sie einen Abend durchweint, eine Nacht durchwacht hatte, war sie
dahin gekommen zu denken, ihr Bruder Simon könne so gottlos nicht sein,
der Knabe gehöre gewiss nicht ihm, Ähnlichkeiten wollen nichts beweisen.
Hatte sie doch selbst vor vierzig Jahren ein Schwesterchen verloren, das
genau dem fremden Hechelkrämer glich. Was glaubt man nicht gern, wenn man
so wenig hat und durch Unglauben dies wenige verlieren soll!

Von dieser Zeit an war Friedrich selten mehr zu Hause. Simon schien alle
wärmeren Gefühle, deren er fähig war, dem Schwestersohn zugewendet zu
haben; wenigstens vermisste er ihn sehr und ließ nicht nach mit Botschaften,
wenn ein häusliches Geschäft ihn auf einige Zeit bei der Mutter hielt.
Der Knabe war seitdem wie verwandelt, das träumerische Wesen gänzlich von
ihm gewichen, er trat fest auf, fing an, sein Äußeres zu beachten und
bald in den Ruf eines hübschen, gewandten Burschen zu kommen. Sein Ohm,
der nicht wohl ohne Projekte leben konnte, unternahm mitunter ziemlich
bedeutende öffentliche Arbeiten, zum Beispiel beim Wegbau, wobei Friedrich
für einen seiner besten Arbeiter und überall als seine rechte Hand galt;
denn obgleich dessen Körperkräfte noch nicht ihr volles Maß erreicht hatten,
kam ihm doch nicht leicht jemand an Ausdauer gleich. Margreth hatte bisher
ihren Sohn nur geliebt, jetzt fing sie an, stolz auf ihn zu werden und sogar
eine Art Hochachtung vor ihm zu fühlen, da sie den jungen Menschen so ganz
ohne ihr Zutun sich entwickeln sah, sogar ohne ihren Rat, den sie, wie die
meisten Menschen, für unschätzbar hielt und deshalb die Fähigkeiten nicht
hoch genug anzuschlagen wusste, die eines so kostbaren Förderungsmittels
entbehren konnten.