
Endlich klopfte der Konrektor Paulmann die Pfeife aus, sprechend: »Nun ist es doch wohl Zeit, sich
zur Ruhe zu begeben.« »Jawohl«, erwiderte die durch des Vaters längeres Aufbleiben beängstete
Veronika, denn es schlug längst zehn Uhr. Kaum war nun der Konrektor in sein Studier- und
Schlafzimmer gegangen, kaum hatten Fränzchens schwerere Atemzüge kund getan, dass sie
wirklich fest eingeschlafen, als Veronika, die sich zum Schein auch ins Bett gelegt, leise, leise
wieder aufstand, sich anzog, den Mantel umwarf und zum Hause hinausschlüpfte. - Seit dem
Augenblick, als Veronika die alte Liese verlassen, stand ihr unaufhörlich der Anselmus vor Augen,
und sie wusste selbst nicht, welch eine fremde Stimme im Innern ihr immer und ewig wiederholte,
dass sein Widerstreben von einer ihr feindlichen Person herrühre, die ihn in Banden halte, welche
Veronika durch geheimnisvolle Mittel der magischen Kunst zerreißen könne. Ihr Vertrauen auf
die alte Liese wuchs mit jedem Tage, und selbst der Eindruck des Unheimlichen, Grausigen
stumpfte sich ab, sodass alles Wunderliche, Seltsame ihres Verhältnisses mit der Alten ihr
nur im Schimmer des Ungewöhnlichen, Romanhaften erschien, wovon sie eben recht angezogen
wurde. Deshalb stand auch der Vorsatz bei ihr fest, selbst mit Gefahr, vermisst zu werden und in
tausend Unannehmlichkeiten zu geraten, das Abenteuer der Tag- und Nachtgleiche zu bestehen.
Endlich war nun die verhängnisvolle Nacht des Äquinoktiums, in der ihr die alte Liese Hülfe und
Trost verheißen, eingetreten, und Veronika, mit dem Gedanken der nächtlichen Wanderung
längst vertraut geworden, fühlte sich ganz ermutigt. Pfeilschnell flog sie durch die einsamen
Straßen, des Sturms nicht achtend, der durch die Lüfte brauste und ihr die dicken Regentropfen
ins Gesicht warf. - Mit dumpfem dröhnendem Klange schlug die Glocke des Kreuzturms eilf Uhr,
als Veronika ganz durchnässt vor dem Hause der Alten stand. »Ei Liebchen, Liebchen, schon da! -
nun warte, warte!«, rief es von oben herab - und gleich darauf stand auch die Alte, mit einem
Korbe beladen und von ihrem Kater begleitet, vor der Tür. »So wollen wir denn gehen und tun
und treiben, was ziemlich ist und gedeiht in der Nacht, die dem Werke günstig«, dies sprechend
ergriff die Alte mit kalter Hand die zitternde Veronika, welcher sie den schweren Korb zu tragen
gab, während sie selbst einen Kessel, Dreifuß und Spaten auspackte. Als sie ins Freie kamen,
regnete es nicht mehr, aber der Sturm war stärker geworden; tausendstimmig heulte es in
den Lüften. Ein entsetzlicher herzzerschneidender Jammer tönte herab aus den schwarzen
Wolken, die sich in schneller Flucht zusammenballten und alles einhüllten in dicke Finsternis.
Aber die Alte schritt rasch fort, mit gellender Stimme rufend: »Leuchte - leuchte mein Junge!«
Da schlängelten und kreuzten sich blaue Blitze vor ihnen her, und Veronika wurde inne, dass
der Kater, knisternde Funken sprühend und leuchtend, vor ihnen herumsprang und dessen
ängstliches grausiges Zetergeschrei sie vernahm, wenn der Sturm nur einen Augenblick
schwieg. - Ihr wollte der Atem vergehen, es war, als griffen eiskalte Krallen in ihr Inneres, aber
gewaltsam raffte sie sich zusammen, und sich fester an die Alte klammernd, sprach sie: »Nun
muss alles vollbracht werden, und es mag geschehen, was da will!« »Recht so, mein Töchterchen!«,
erwiderte die Alte, »bleibe fein standhaft, und ich schenke dir was Schönes und den Anselmus
obendrein!« Endlich stand die Alte still und sprach: »Nun sind wir an Ort und Stelle!« Sie grub ein
Loch in die Erde, schüttete Kohlen hinein und stellte den Dreifuß darüber, auf den sie den
Kessel setzte. Alles dieses begleitete sie mit seltsamen Gebärden, während der Kater sie
umkreiste. Aus seinem Schweif sprühten Funken, die einen Feuerreif bildeten. Bald fingen
die Kohlen an zu glühen, und endlich schlugen blaue Flammen unter dem Dreifuß hervor.
Veronika musste Mantel und Schleier ablegen und sich bei der Alten niederkauern, die ihre
Hände ergriff und fest drückte, mit den funkelnden Augen das Mädchen anstarrend. Nun
fingen die sonderbaren Massen - waren es Blumen - Metalle - Kräuter - Tiere, man konnte
es nicht unterscheiden - die die Alte aus dem Korbe genommen und in den Kessel geworfen,
an zu sieden und zu brausen. Die Alte ließ Veronika los, sie ergriff einen eisernen Löffel, mit
dem sie in die glühende Masse hineinfuhr und darin rührte, während Veronika auf ihr Geheiß
festen Blickes in den Kessel hineinschauen und ihre Gedanken auf den Anselmus richten musste.
Nun warf die Alte aufs Neue blinkende Metalle und auch eine Haarlocke, die sich Veronika vom
Kopfwirbel geschnitten, sowie einen kleinen Ring, den sie lange getragen, in den Kessel,
indem sie unverständliche, durch die Nacht grausig gellende Töne ausstieß und der Kater
im unaufhörlichen Rennen winselte und ächzte. - - Ich wollte, dass du, günstiger Leser,
am dreiundzwanzigsten September auf der Reise nach Dresden begriffen gewesen wärest;
vergebens suchte man, als der späte Abend hereinbrach, dich auf der letzten Station
aufzuhalten; der freundliche Wirt stellte dir vor, es stürme und regne doch gar zu sehr,
und überhaupt sei es auch nicht geheuer, in der Äquinoktialnacht so ins Dunkle hineinzufahren,
aber du achtetest dessen nicht, indem du ganz richtig annahmst: Ich zahle dem Postillion
einen ganzen Taler Trinkgeld und bin spätestens um ein Uhr
in Dresden, wo mich im
Goldnen Engel oder im Helm oder in der Stadt Naumburg ein gut zugerichtetes Abendessen
und ein weiches Bett erwartet. Wie du nun so in der Finsternis daherfährst, siehst du
plötzlich in der Ferne ein ganz seltsames flackerndes Leuchten. Näher gekommen, erblickst
du einen Feuerreif, in dessen Mitte bei einem Kessel, aus dem dicker Qualm und blitzende
rote Strahlen und Funken emporschießen, zwei Gestalten sitzen. Gerade durch das Feuer
geht der Weg, aber die Pferde prusten und stampfen und bäumen sich - der Postillion
flucht und betet - und peitscht auf die Pferde hinein - sie gehen nicht von der Stelle. -
Unwillkürlich springst du aus dem Wagen und rennst einige Schritte vorwärts. Nun siehst
du deutlich das schlanke holde Mädchen, die im weißen dünnen Nachtgewande bei dem
Kessel kniet. Der Sturm hat die Flechten aufgelöst, und das lange kastanienbraune Haar
flattert frei in den Lüften.
Ganz im blendenden Feuer der unter dem Dreifuß
emporflackernden Flammen steht das engelschöne Gesicht, aber in dem Entsetzen, das seinen Eisstrom
darübergoss, ist es erstarrt zur Totenbleiche, und in dem stieren Blick, in den hinaufgezogenen
Augenbrauen, in dem Munde, der sich vergebens dem Schrei der Todesangst öffnet, welcher
sich nicht entwinden kann der von namenloser Folter gepressten Brust, siehst du ihr Grausen,
ihr Entsetzen; die kleinen Händchen hält sie krampfhaft zusammengefaltet in die Höhe, als
riefe sie betend die Schutzengel herbei, sie zu schirmen vor den Ungetümen der Hölle, die,
dem mächtigen Zauber gehorchend, nun gleich erscheinen werden! - So kniet sie da,
unbeweglich wie ein Marmorbild.
Ihr gegenüber sitzt auf dem Boden niedergekauert ein
langes, hageres, kupfergelbes Weib mit spitzer Habichtsnase und funkelnden Katzenaugen;
aus dem schwarzen Mantel, den sie umgeworfen, starren die nackten knöchernen Arme
hervor, und, rührend in dem Höllensud, lacht und ruft sie mit krächzender Stimme durch
den brausenden tosenden Sturm. - Ich glaube wohl, dass dir, günstiger Leser, kenntest
du auch sonst keine Furcht und Scheu, sich doch
bei dem Anblick dieses Rembrandt'schen
oder Höllenbreughel'schen Gemäldes, das nun ins Leben getreten, vor Grausen die Haare
auf dem Kopfe gesträubt hätten. Aber dein Blick konnte nicht loskommen von dem im
höllischen Treiben befangenen Mädchen, und der elektrische Schlag, der durch alle deine
Fibern und Nerven zitterte, entzündete mit der Schnelligkeit des Blitzes in dir den mutigen
Gedanken, Trotz zu bieten den geheimnisvollen Mächten des Feuerkreises; in ihm ging dein
Grausen unter, ja der Gedanke selbst keimte auf in diesem Grausen und Entsetzen als dessen
Erzeugnis. Es war dir, als seist du selbst der Schutzengel einer, zu denen das zum Tode
geängstigte Mädchen flehte, ja als müsstest du nur gleich dein Taschenpistol hervorziehen
und die Alte ohne weiteres totschießen! Aber, indem du das lebhaft dachtest, schriest du
laut auf. »Heda!« oder: »Was gibt es dorten«, oder: »Was treibt ihr da!« - Der Postillion
stieß schmetternd in sein Horn, die Alte kugelte um in ihren Sud hinein, und alles war mit
einem Mal verschwunden in dickem Qualm. - Ob du das Mädchen, das du nun mit recht innigem
Verlangen in der Finsternis suchtest, gefunden hättest, mag ich nicht behaupten, aber den
Spuk des alten Weibes hattest du zerstört und den Bann des magischen Kreises, in den
sich Veronika leichtsinnig begeben, gelöset. - Weder du, günstiger Leser, noch sonst
jemand fuhr oder ging aber am dreiundzwanzigsten September in der stürmischen, den
Hexenkünsten günstigen Nacht des Weges, und Veronika musste ausharren am Kessel in
tödlicher Angst, bis das Werk der Vollendung nahe. - Sie vernahm wohl, wie es um sie her
heulte und brauste, wie allerlei widrige Stimmen durcheinander blökten und schnatterten,
aber sie schlug die Augen nicht auf, denn sie fühlte, wie der Anblick des Grässlichen, des
Entsetzlichen, von dem sie umgeben, sie in unheilbaren zerstörenden Wahnsinn stürzen
könne. Die Alte hatte aufgehört im Kessel zu rühren, immer schwächer und schwächer
wurde der Qualm, und zuletzt brannte nur eine leichte Spiritusflamme im Boden des
Kessels. Da rief die Alte: »Veronika, mein Kind! mein Liebchen! Schau' hinein in den Grund! -
Was siehst du denn - was siehst du denn?« - Aber Veronika vermochte nicht zu antworten,
unerachtet es ihr schien, als drehten sich allerlei verworrene Figuren im Kessel durcheinander;
immer deutlicher und deutlicher gingen Gestalten hervor, und mit einem Mal trat, sie freundlich
anblickend und die Hand ihr reichend, der Student Anselmus aus der Tiefe des Kessels. Da rief
sie laut: »Ach, der Anselmus! - der Anselmus!« - Rasch öffnete die Alte den am Kessel befindlichen
Hahn, und glühendes Metall strömte zischend und prasselnd in eine kleine Form, die sie
danebengestellt. Nun sprang das Weib auf und kreischte, mit wilder, grässlicher Gebärde
sich herumschwingend: »Vollendet ist das Werk - Dank dir, mein Junge! - hast Wache gehalten -
Hui - Hui - er kommt! - beiß ihn tot - beiß ihn tot!«
Aber da brauste
es mächtig durch die
Lüfte, es war, als rausche ein ungeheurer Adler herab, mit den Fittichen um sich schlagend,
und es rief mit entsetzlicher Stimme: »Hei, hei! - ihr Gesindel! Nun ist's aus - nun ist's aus -
fort zu Haus!« Die Alte stürzte heulend nieder, aber der Veronika vergingen Sinn und
Gedanken. - Als sie wieder zu sich selbst kam, war es heller Tag geworden, sie lag in
ihrem Bette, und Fränzchen stand mit einer Tasse dampfenden Tees vor ihr, sprechend:
»Aber sage mir nur, Schwester, was dir ist, da stehe ich nun schon eine Stunde oder
länger vor dir, und du liegst wie in der Fieberhitze besinnungslos da und stöhnst und
ächzest, dass uns angst und bange wird. Der Vater ist deinetwegen heute nicht in die
Klasse gegangen und wird gleich mit dem Herrn Doktor hereinkommen.« - Veronika
nahm schweigend den Tee; indem sie ihn hinunterschlürfte, traten ihr die grässlichen
Bilder der Nacht lebhaft vor Augen. »So war denn wohl alles nur ein ängstlicher
Traum, der mich gequält hat? - Aber ich bin doch gestern abend wirklich zur Alten
gegangen, es war ja der dreiundzwanzigste September? - Doch bin ich wohl schon
gestern recht krank geworden und habe mir das alles nur eingebildet, und nichts
hat mich krank gemacht als das ewige Denken an den Anselmus und an die
wunderliche alte Frau, die sich für die Liese ausgab und mich wohl nur damit geneckt
hat.« - Fränzchen, die hinausgegangen, trat wieder herein mit Veronikas ganz
durchnässtem Mantel in der Hand. »Sieh nur, Schwester«, sagte sie, »wie es deinem
Mantel ergangen ist; da hat der Sturm in der Nacht das Fenster aufgerissen und den
Stuhl, auf dem der Mantel lag, umgeworfen; da hat es nun wohl hineingeregnet, denn
der Mantel ist ganz nass.« - Das fiel der Veronika schwer aufs Herz, denn sie merkte
nun wohl, dass nicht ein Traum sie gequält, sondern dass sie wirklich bei der Alten
gewesen. Da ergriff sie Angst und Grausen, und ein Fieberfrost zitterte durch alle
Glieder. Im krampfhaften Erbeben zog sie die Bettdecke fest über sich; aber da fühlte
sie, dass etwas Hartes ihre Brust drückte, und als sie mit der Hand danach fasste,
schien es ein Medaillon zu sein; sie zog es hervor, als Fränzchen mit dem Mantel
fortgegangen, und es war ein kleiner runder, hell polierter Metallspiegel. »Das ist
ein Geschenk der Alten«, rief sie lebhaft, und es war, als schössen feurige Strahlen
aus dem Spiegel, die in ihr Innerstes drangen und es wohltuend erwärmten. Der
Fieberfrost war vorüber, und es durchströmte sie ein unbeschreibliches Gefühl von
Behaglichkeit und Wohlsein. An den Anselmus musste sie denken, und als sie immer
fester und fester den Gedanken auf ihn richtete, da lächelte er ihr freundlich aus
dem Spiegel entgegen wie ein lebhaftes Miniaturporträt. Aber bald war es ihr,
als sähe sie nicht mehr das Bild - nein! - sondern den Studenten Anselmus
selbstleibhaftig. Er saß in einem hohen, seltsam ausstaffierten Zimmer und schrieb
emsig. Veronika wollte zu ihm hintreten, ihn auf die Schulter klopfen und sprechen:
»Herr Anselmus, schauen Sie doch um sich, ich bin ja da!« Aber das ging durchaus
nicht an, denn es war, als umgäbe ihn ein leuchtender Feuerstrom, und wenn
Veronika recht genau hinsah, waren es doch nur große Bücher mit vergoldetem
Schnitt. Aber endlich gelang es der Veronika, den Anselmus ins Auge zu fassen;
da war es, als müsse er im Anschauen sich erst auf sie besinnen, doch endlich
lächelte er und sprach: »Ach! - sind Sie es, liebe Mademoiselle Paulmann! Aber
warum belieben Sie sich denn zuweilen als ein Schlänglein zu gebärden?«
Veronika musste über diese seltsamen Worte laut auflachen; darüber erwachte
sie wie aus einem tiefen Traume, und sie verbarg schnell den kleinen Spiegel,
als die Tür aufging und der Konrektor Paulmann mit dem Doktor Eckstein ins
Zimmer kam. Der Doktor Eckstein ging sogleich ans Bett, fasste, lange in tiefem
Nachdenken versunken, Veronikas Puls und sagte dann: »Ei! - Ei!« Hierauf
schrieb er ein Rezept, fasste noch einmal den Puls, sagte wiederum »Ei! Ei!« und
verließ die Patientin. Aus diesen Äußerungen des Doktors Eckstein konnte aber
der Konrektor Paulmann nicht recht deutlich entnehmen, was der Veronika denn
wohl eigentlich fehlen möge.