
»Der Geist schaute auf das Wasser, da bewegte es sich und brauste in schäumenden Wogen
und stürzte sich donnernd in die Abgründe, die ihre schwarzen Rachen aufsperrten, es
gierig zu verschlingen. Wie triumphierende Sieger hoben die Granitfelsen ihre zackicht
gekrönten Häupter empor, das Tal schützend, bis es die Sonne in ihren mütterlichen
Schoß nahm und es umfassend mit ihren Strahlen wie mit glühenden Armen pflegte und
wärmte. Da erwachten tausend Keime, die unter dem öden Sande geschlummert, aus dem
tiefen Schlafe und streckten ihre grüne Blättlein und Halme zum Angesicht der Mutter hinauf,
und wie lächelnde Kinder in grüner Wiege ruhten in den Blüten und Knospen Blümlein, bis
auch sie, von der Mutter geweckt, erwachten und sich schmückten mit den Lichtern, die
die Mutter ihnen zur Freude auf tausendfache Weise bunt gefärbt.
Aber in der Mitte des
Tals war ein schwarzer Hügel, der hob sich auf und nieder wie die Brust des Menschen,
wenn glühende Sehnsucht sie schwellt. - Aus den Abgründen rollten die Dünste empor,
und sich zusammenballend in gewaltige Massen, strebten sie das Angesicht der Mutter
feindlich zu verhüllen; die rief aber den Sturm herbei, der fuhr zerstäubend unter sie, und
als der reine Strahl wieder den schwarzen Hügel berührte, da brach im Übermaß des
Entzückens eine herrliche Feuerlilie hervor, die schönen Blätter wie holdselige Lippen
öffnend, der Mutter süße Küsse zu empfangen. - Nun schritt ein glänzendes Leuchten in
das Tal; es war der Jüngling Phosphorus, den sah die Feuerlilie und flehte, von heißer
sehnsüchtiger Liebe befangen: 'Sei doch mein ewiglich, du schöner Jüngling! denn ich
liebe dich und muss vergehen, wenn du mich verlässest.' Da sprach der Jüngling
Phosphorus: 'Ich will dein sein, du schöne Blume, aber dann wirst du wie ein entartet
Kind Vater und Mutter verlassen, du wirst deine Gespielen nicht mehr kennen, du wirst
größer und mächtiger sein wollen als alles, was sich jetzt als deinesgleichen mit dir freut.
Die Sehnsucht, die jetzt dein ganzes Wesen wohltätig erwärmt, wird, in hundert Strahlen
zerspaltet, dich quälen und martern, denn der Sinn wird die Sinne gebären, und die höchste
Wonne, die der Funke entzündet, den ich in dich hineinwerfe, ist der hoffnungslose Schmerz,
in dem du untergehst, um aufs Neue fremdartig emporzukeimen. - Dieser Funke ist
der Gedanke!' - 'Ach!', klagte die Lilie, 'kann ich denn nicht in der Glut, wie sie jetzt in mir
brennt, dein sein? Kann ich dich denn mehr lieben als jetzt, und kann ich dich denn schauen
wie jetzt, wenn du mich vernichtest?' Da küsste sie der Jüngling Phosphorus, und wie vom
Lichte durchstrahlt loderte sie auf in Flammen, aus denen ein fremdes Wesen hervorbrach,
das, schnell dem Tale entfliehend, im unendlichen Raume herumschwärmte, sich nicht
kümmernd um die Gespielen der Jugend und um den geliebten Jüngling. Der klagte
um die verlorne Geliebte, denn auch ihn brachte ja nur die unendliche Liebe zu der
schönen Lilie in das einsame Tal, und die Granitfelsen neigten ihre Häupter teilnehmend
vor dem Jammer des Jünglings. Aber einer öffnete seinen Schoß, und es kam ein
schwarzer geflügelter Drache rauschend herausgeflattert und sprach: 'Meine Brüder,
die Metalle, schlafen da drinnen, aber ich bin stets munter und wach und will dir helfen.'
Sich auf- und niederschwingend erhaschte endlich der Drache das Wesen, das der Lilie
entsprossen, trug es auf den Hügel und umschloss es mit seinem Fittich; da war es wieder
die Lilie, aber der bleibende Gedanke zerriss ihr Innerstes, und die Liebe zu dem Jüngling
Phosphorus war ein schneidender Jammer, vor dem, von giftigen Dünsten angehaucht,
die Blümlein, die sonst sich ihres Blicks gefreut, verwelkten und starben.
Der Jüngling
Phosphorus legte eine glänzende Rüstung an, die in tausendfarbigen Strahlen spielte,
und kämpfte mit dem Drachen, der mit seinem schwarzen Fittich an den Panzer schlug,
dass er hell erklang; und von dem mächtigen Klange lebten die Blümlein wieder auf und
umflatterten wie bunte Vögel den Drachen, dessen Kräfte schwanden und der besiegt
sich in der Tiefe der Erde verbarg. Die Lilie war befreit, der Jüngling Phosphorus
umschlang sie voll glühenden Verlangens himmlischer Liebe, und im hochjubelnden
Hymnus huldigten ihr die Blumen, die Vögel, ja selbst die hohen Granitfelsen als Königin
des Tals.« - »Erlauben Sie, das ist orientalischer Schwulst, werter Herr Archivarius!»,
sagte der Registrator Heerbrand, »und wir baten denn doch, Sie sollten, wie Sie sonst
wohl zu tun pflegen, uns etwas aus Ihrem höchst merkwürdigen Leben, etwa von Ihren
Reiseabenteuern, und zwar etwas Wahrhaftiges, erzählen.« »Nun was denn«, erwiderte
der Archivarius Lindhorst, »das, was ich soeben erzählt, ist das Wahrhaftigste, was ich
euch auftischen kann, ihr Leute, und gehört in gewisser Art auch zu meinem Leben.
Denn ich stamme eben aus jenem Tale her, und die Feuerlilie, die zuletzt als Königin
herrschte, ist meine Ur-ur-ur-ur-Großmutter, weshalb ich denn auch eigentlich ein
Prinz bin.« - Alle brachen in ein schallendes Gelächter aus. - »Ja, lacht nur recht herzlich«,
fuhr der Archivarius Lindhorst fort, »euch mag wohl das, was ich freilich nur in ganz
dürftigen Zügen erzählt habe, unsinnig und toll vorkommen, aber es ist dessen
unerachtet nichts weniger als ungereimt oder auch nur allegorisch gemeint, sondern
buchstäblich wahr. Hätte ich aber gewusst, dass euch die herrliche Liebesgeschichte,
der auch ich meine Entstehung zu verdanken habe, so wenig gefallen würde, so hätte
ich lieber manches Neue mitgeteilt, das mir mein Bruder beim gestrigen Besuch mitbrachte.«
»Ei, wie das? Haben Sie denn einen Bruder, Herr Archivarius? - Wo ist er denn - wo lebt er
denn?
Auch in königlichen Diensten, oder vielleicht ein privatisierender Gelehrter?« -
so fragte man von allen Seiten. - »Nein!«, erwiderte der Archivarius, ganz kalt und gelassen
eine Prise nehmend, »er hat sich auf die schlechte Seite gelegt und ist unter die Drachen
gegangen.« - »Wie beliebten Sie doch zu sagen, wertester Archivarius«, nahm der Registrator
Heerbrand das Wort, »unter die Drachen?« »Unter die Drachen?«, hallte es von allen Seiten
wie ein Echo nach. - »Ja, unter die Drachen«, fuhr der Archivarius Lindhorst fort;
»eigentlich war es Desperation. Sie wissen, meine Herren, dass mein Vater vor ganz kurzer Zeit starb,
es sind nur höchstens dreihundertundfünfundachtzig Jahre her, weshalb ich auch noch
Trauer trage, der hatte mir, dem Liebling, einen prächtigen Onyx vermacht, den durchaus
mein Bruder haben wollte. Wir zankten uns bei der Leiche des Vaters darüber auf eine
ungebührliche Weise, bis der Selige, der die Geduld verlor, aufsprang und den bösen Bruder
die Treppe hinunterwarf. Das wurmte meinen Bruder, und er ging stehenden Fußes unter die
Drachen. Jetzt hält er sich in einem Zypressenwalde dicht bei Tunis auf, dort hat er einen
berühmten mystischen Karfunkel zu bewachen, dem ein Teufelskerl von Nekromant, der ein
Sommerlogis in Lappland bezogen, nachstellt, weshalb er denn nur auf ein Viertelstündchen,
wenn gerade der Nekromant im Garten seine Salamanderbeete besorgt, abkommen kann,
um mir in der Geschwindigkeit zu erzählen, was es gutes Neues an den Quellen des Nils gibt.« -
Zum zweiten Male brachen die Anwesenden in ein schallendes Gelächter aus, aber dem
Studenten Anselmus wurde ganz unheimlich zumute, und er konnte dem Archivarius Lindhorst
kaum in die starren ernsten Augen sehen, ohne innerlich auf eine ihm selbst unbegreifliche
Weise zu erbeben. Zumal hatte die rauhe, aber sonderbar metallartig tönende Stimme des
Archivarius Lindhorst für ihn etwas geheimnisvoll Eindringendes, dass er Mark und Bein erzittern
fühlte. Der eigentliche Zweck, weshalb ihn der Registrator Heerbrand mit in das Kaffeehaus
genommen hatte, schien heute nicht erreichbar zu sein. Nach jenem Vorfall vor dem Hause
des Archivarius Lindhorst war nämlich der Student Anselmus nicht dahin zu vermögen gewesen,
den Besuch zum zweiten Male zu wagen; denn nach seiner innigsten Überzeugung hatte nur
der Zufall ihn, wo nicht vom Tode, doch von der Gefahr, wahnwitzig zu werden, befreit. Der
Konrektor Paulmann war eben durch die Straße gegangen, als er ganz von Sinnen vor der
Haustür lag und ein altes Weib, die ihren Kuchen- und Äpfelkorb beiseite gesetzt, um ihn
beschäftigt war.
Der Konrektor Paulmann hatte sogleich eine Portechaise herbeigerufen
und ihn so nach Hause transportiert. »Man mag von mir denken, was man will«, sagte der
Student Anselmus, »man mag mich für einen Narren halten oder nicht - genug! - an dem
Türklopfer grinste mir das vermaledeite Gesicht der Hexe vom Schwarzen Tore entgegen;
was nachher geschah, davon will ich lieber gar nicht reden, aber wäre ich aus meiner
Ohnmacht erwacht und hätte das verwünschte Äpfelweib vor mir gesehen (denn niemand
anders war doch das alte um mich beschäftigte Weib), mich hätte augenblicklich der
Schlag gerührt, oder ich wäre wahnsinnig geworden.« Alles Zureden, alle vernünftige
Vorstellungen des Konrektors Paulmann und des Registrators Heerbrand fruchteten gar
nichts, und selbst die blauäugige Veronika vermochte nicht, ihn aus einem gewissen
tiefsinnigen Zustande zu reißen, in den er versunken. Man hielt ihn nun in der Tat für
seelenkrank und sann auf Mittel, ihn zu zerstreuen, worauf der Registrator Heerbrand
meinte, dass nichts dazu dienlicher sein könne als die Beschäftigung bei dem Archivarius
Lindhorst, nämlich das Nachmalen der Manuskripte. Es kam nur darauf an, den Studenten
Anselmus auf gute Art dem Archivarius Lindhorst bekannt zu machen, und da der Registrator
Heerbrand wusste, dass dieser beinahe jeden Abend ein gewisses bekanntes Kaffeehaus
besuchte, so lud er den Studenten Anselmus ein, jeden Abend so lange auf seine, des
Registrators, Kosten in jenem Kaffeehause ein Glas Bier zu trinken und eine Pfeife zu rauchen,
bis er auf diese oder jene Art dem Archivarius bekannt und mit ihm über das Geschäft
des Abschreibens der Manuskripte einig worden, welches der Student Anselmus dankbarlichst
annahm. »Sie verdienen Gottes Lohn, werter Registrator, wenn Sie den jungen Menschen zur
Raison bringen«, sagte der Konrektor Paulmann. »Gottes Lohn!«, wiederholte Veronika, indem
sie die Augen fromm zum Himmel erhub und lebhaft daran dachte, wie der Student Anselmus
schon jetzt ein recht artiger junger Mann sei, auch ohne Raison! - Als der Archivarius
Lindhorst eben mit Hut und Stock zur Tür hinausschreiten wollte, da ergriff der Registrator
Heerbrand den Studenten Anselmus rasch bei der Hand, und mit ihm dem Archivarius den
Weg vertretend, sprach er: »Geschätztester Herr Geheimer Archivarius, hier ist der
Student Anselmus, der, ungemein geschickt im Schönschreiben und Zeichnen, Ihre
seltenen Manuskripte kopieren will.« »Das ist mir ganz ungemein lieb«, erwiderte der
Archivarius Lindhorst rasch, warf den dreieckigen soldatischen Hut auf den Kopf und
eilte, den Registrator Heerbrand und den Studenten Anselmus beiseite schiebend, mit
vielem Geräusch die Treppe hinab, sodass beide ganz verblüfft dastanden und die
Stubentür anguckten, die er dicht vor ihnen zugeschlagen, dass die Angeln klirrten.
»Das ist ja ein ganz wunderlicher alter Mann«, sagte der Registrator Heerbrand. -
»Wunderlicher alter Mann«, stotterte der Student Anselmus nach, fühlend, wie ein
Eisstrom ihm durch alle Adern fröstelte, dass er beinahe zur starren Bildsäule worden.
Aber alle Gäste lachten und sagten:
»Der Archivarius war heute einmal wieder in seiner
besonderen Laune, morgen ist er gewiss sanftmütig und spricht kein Wort, sondern sieht
in die Dampfwirbel seiner Pfeife oder liest Zeitungen, man muss sich daran gar nicht
kehren.« - »Das ist auch wahr«, dachte der Student Anselmus, »wer wird sich an so
etwas kehren! Hat der Archivarius nicht gesagt, es sei ihm ganz ungemein lieb, dass
ich seine Manuskripte kopieren wollte? - Und warum vertrat ihm auch der Registrator
Heerbrand den Weg, als er gerade nach Hause gehen wollte? - Nein, nein, es ist ein
lieber Mann im Grunde genommen,
der Herr Geheime Archivarius Lindhorst, und liberal
erstaunlich - nur kurios in absonderlichen Redensarten - allein was schadet das mir? -
Morgen gehe ich hin Punkt zwölf Uhr, und setzten sich hundert bronzierte Äpfelweiber
dagegen.«