Gestaltungsmerkmale Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
Zwölfte Vigilie
Das gesamte Schlusskapitel ist durchzogen von Ironie, romantischer Ironie, insofern der Erzähler wiederum sein eigenes Geschäft zum Gegenstand seiner Darlegungen macht.
Sprung zur Textstelle Aber vergebens blieb alles Streben, dir, günstiger Leser, all die Herrlichkeiten, von denen der Anselmus umgeben, auch nur einigermaßen in Worten anzudeuten.
Wenn der Erzähler zu wissen behauptet, wie Anselmus sich in Atlantis befindet, und ihm zur Schilderung seines Lebens dort nur angeblich die Worte fehlen, so wird eine offensichtliche erzählerische Nebensache damit ironisch zur Hauptsache gemacht. Ein ernsthafter Erzähler müsste, statt von seinen Formulierungsnöten zu sprechen, hier vielmehr erklären, wieso er etwas von Atlantis weiß, oder auch vielleicht Auskunft darüber geben, wie man in Dresden auf des Anselmus Verschwinden reagiert hat, doch dieser Erzähler denkt nicht daran. Er lässt den Anspruch, Übermittler eines tatsächlichen Geschehens zu sein, einfach fallen und wechselt in die Rolle des Erfinders seiner Geschichte.
Sprung zur Textstelle Ew. Wohlgeboren haben, wie mir bekannt worden, die seltsamen Schicksale meines guten Schwiegersohnes, des vormaligen Studenten, jetzigen Dichters Anselmus, in eilf Vigilien beschrieben ...
Dass eine am Geschehen beteiligte Person mit dem Erzähler in Verbindung tritt, ist in der Romantradition des 18. Jahrhunderts keine Seltenheit. Es dient dort in der Regel dazu, das Erzählerwissen dem Leser plausibel zu machen, stellt also eine Art Quellennachweis dar. Hoffmann macht auch von diesem Mittel einen ironischen Gebrauch. Nicht nur hat sich die Nicht-Existenz des Archivarius schon so unübersehbar erwiesen, dass er sich als Person bei dem Erzähler gar nicht melden kann, Hoffmann lässt ihn auch noch Betrachtungen darüber anstellen, wie der veröffentlichte 'Goldene Topf' auf seine Beamtenexistenz Einfluss nehmen könnte. Die viel näher liegende Frage, in welchem Verhältnis der Archivarius zum Erzähler steht, also wie dieser an seine Geschichte gekommen ist, wird nicht gestellt; das wäre eben der traditionelle Umgang mit diesem erzählerischen Mittel, der für die Romantik nicht mehr in Betracht kommt.
Sprung zur Textstelle Der Archivarius Lindhorst verschwand, erschien aber gleich wieder mit einem schönen goldnen Pokal in der Hand, aus dem eine blaue Flamme hoch emporknisterte.
Eine nochmals ironische Wendung liegt vor, wenn sich die Schönheit des Lebens in Atlantis dem Erzähler im Alkoholrausch offenbart. Ist Atlantis dann überhaupt etwas anderes? Boshaft ließe sich anmerken, dass sich so auch die gänzliche Inhaltlosigkeit der niedergeschriebenen Vision erklärt, doch das hat Hoffmann sicherlich nicht zum Ausdruck bringen wollen. Er stößt hier einfach an die Grenzen seines Könnens. Dass es funkelt, blitzt und Strahlen schießen, ist dem paradiesischen Eindruck eher abträglich, und auch auf das Insekten-Getümmel in der Luft und Diamanten, die wie Augen in der Erde stecken, könnte man wohl verzichten. Bei Novalis oder Eichendorff wird für solche Momente mit einem wesentlich geringeren Wortaufwand wesentlich mehr erreicht, einfach weil ihre Texte auch eine Melodie haben.
Sprung zur Textstelle Waren Sie nicht soeben selbst in Atlantis, und haben Sie denn nicht auch dort wenigstens einen artigen Meierhof als poetisches Besitztum Ihres innern Sinns - Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie ...
Eine letzte romantisch-ironische Wendung nimmt die Geschichte dadurch, dass das erzählte Märchen selbst zu der anderen Welt wird, von der es erzählt. Das Traumland Atlantis ist die Poesie, wer sich ihr zuwendet, hat dort wenigstens einen 'artigen Meierhof'. Der arme Dachstubenpoet, der an dieser Stelle spricht, wird deshalb auch nicht mehr der mit dem Archivarius Lindhorst korrespondierende Erzähler sein, sondern der Autor. Hoffmann selbst gibt dem Leser zu verstehen, was die Dichtung - das Schreiben - für ihn bedeutet.