[Erster Teil]
... die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtgefühl
aber machte ihn zum Räuber und Mörder.
Dieses vorausgeschickte Gesamturteil soll einerseits Spannung erzeugen, zeigt andererseits aber auch schon die
Tendenz an, mit der Michael Kohhaas hier behandelt werden wird: nämlich nachsichtig oder sogar ihn entschuldigend. Dass die
Welt sein Andenken ohne seine Untaten 'würde haben segnen müssen', trifft ja eigentlich nicht zu, da dieses Andenken
überhaupt nur besteht, weil er zum
'Räuber und Mörder' geworden ist. Wird einem solchen Menschen Gutes nachgesagt und dieses Gute für mindestens
ebenso erinnerungswürdig erklärt wie seine Untaten, so wertet ihn das auf oder lässt gar durchblicken, dass sein
Tun für gar nicht so verwerflich zu halten ist.
Entsprechend dieser Vorausbewertung wird sich immer wieder zeigen, dass der Erzähler seine demonstrativ negativen Urteile
entweder an Nebensächlichkeiten festmacht oder sie zu den geschilderten Sachverhalten nicht passen, sie also im Grunde nicht ernst
gemeint sind. An des Erzählers Sympathie für Kohlhaas kommt nie Zweifel auf - und wie auch, da Kleist seinen eigenen
Kampf um Gerechtigkeit und seine Wut, dass sie ihm nicht zuteil wird, auf seinen Protagonisten überträgt.
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Der Rosskamm versicherte, dass er siebzehn Mal in seinem Leben ohne einen solchen Schein über die Grenze gezogen sei; dass er
alle landesherrlichen Verfügungen, die sein Gewerbe angingen, genau kennte ...
Dies ist ein erster - wahrscheinlich gar nicht beabsichtigter - Hinweis auf die schon beschädigte Weltwahrnehmung, die Kohlhaas
kennzeichnet. Wer hält sich siebzehn problemlose Grenzübertritte vor Augen, um sich beim achtzehnten über eine Abweichung zu
ärgern und sich auf seine genaue Kenntnis aller landesherrlichen Verfügungen zu berufen? So jemand wartet nur
darauf, dass ihm Unrecht geschieht, er hat schon eine große Wut gegen alles in sich angesammelt, was seine Freiheit einschränkt. Auch
die vorhergehende ironische Bemerkung über den Passschein
... dass man ihm aber nur beschreiben möchte, was dies für ein Ding des Herrn sei, so werde er vielleicht zufälligerweise damit
versehen sein ...
macht diese seine Einstellung deutlich. Kohlhaas ist ein Mensch, der eine grundsätzlich
geregelte
und überdies gerecht geregelte Welt voraussetzt, eine Welt, in der man nur aufgrund von vernunftgeleiteten Bestimmungen in seiner Freiheit
eingeschränkt werden darf. Mit anderen Worten: Kohlhaas ist kein Mensch des 16. Jahrhunderts, der an ständische Ungleichheit
von Geburt an gewöhnt wäre, sondern sein Selbstverständnis hat schon die Aufklärung durchlaufen und wertet jeden
Verstoß gegen das ihm nicht Einsichtige als einen Angriff auf die Weltordnung. Dass man mit solchen Verstößen ständig
rechnen muss, weiß er aber und reagiert deshalb sofort misstrauisch, wenn es 'etwas Neues gibt'.
Es ist wichtig, sich dies klar zu machen, weil von Fall zu Fall der Eindruck erweckt wird, als stehe Kohlhaas der Welt eigentlich arglos
gegenüber und gerate erst aufs Äußerste gereizt zu ihr in Widerspruch. Kennzeichnend für ihn ist vielmehr die ständige
Bereitschaft zum Losschlagen, gezügelt nur durch den Vorsatz, den Zeitpunkt der unbezweifelbarsten Berechtigung dafür abzuwarten.
Schon auch die Formulierung, er habe ein wenig betreten, also verlegen, auf die Forderung nach einem Passschein reagiert, ist in diesem
Sinne irreführend, da sich sofort die ironische Bemerkung über das merkwürdige 'Ding des Herrn', das ihm da abverlangt werde,
anschließt. Wer so reagieren kann, ist nicht verlegen, er ist
überlegen, weil er im Grunde schon weiß,
dass er die Welt wieder auf einer Ungerechtigkeit ertappen wird.
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... wo er von den Räten ... erfuhr, was ihm allerdings sein erster Glaube schon gesagt hatte, dass die Geschichte von dem Passschein ein
Märchen sei. Kohlhaas, dem die missvergnügten Räte auf sein Ansuchen einen schriftlichen Schein über den Ungrund
derselben gaben, lächelte über den Witz des dürren Junkers ...
Die bürokratisch eingerichtete Welt geht hier so weit, dass man sich sogar eine behördliche Bescheinigung über das Nichtvorhandensein
einer Bestimmung ausstellen lassen kann - etwas, wozu selbst heute kaum je eine Behörde bereit sein wird. Ein schier unbegrenztes Vertrauen
in die Geregeltheit aller Verhältnisse spricht sich darin aus, völlig verschieden von den Zuständen des 16. Jahrhunderts, aber auch für
Kleist Zeit nur das Wörtlichnehmen einer Vision, die die Aufklärung für den Staat der Zukunft an den Horizont geworfen hatte.
Wieso aber lächelt Kohlhaas über die Anmaßung des Junkers? Sollte er nicht aufgebracht sein, dass er die Pferde, die er eigentlich
hatte verkaufen wollen, in der Tronkenburg hatte zurücklassen müssen? Während sich das Gefühl des Lesers längst
empört, zeigt Kleist seinen Kohlhaas auf eine schon unmenschliche Weise gleichmütig - natürlich in der Absicht, seinen Mal um Mal
zurückgehaltenen Zorn am Ende nur um so berechtigter losbrechen zu lassen.
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Denn ein richtiges, mit der gebrechlichen Einrichtung der Welt schon bekanntes Gefühl machte ihn trotz der erlittenen Beleidigungen geneigt,
... den Verlust der Pferde ... zu verschmerzen.
Auch diese Zurückhaltung überschreitet die Grenze des von Kohlhaas Hinnehmbaren. Denn selbst wenn sich sein Knecht
irgendwelcher Versäumnisse schuldig gemacht hätte, müsste der Junker die widerrechtlich eingezogenen Pferde so versorgt
haben, dass er sie unbeschadet zurückgeben kann. Alles andere müsste ihn nach Kohlhaasens Rechtsbegriffen zu Schadensersatz
verpflichten, d.h. es wird Kohlhaas erneut in einer geradezu unnatürlichen Duldsamkeit gezeigt.
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Mit diesen Worten setzte er sich in den Lehnstuhl, und die Hausfrau, die sich über seine Gelassenheit sehr freute, ging und holte den Knecht.
Kohlhaasens Frau hat anscheinend schon andere Erfahrungen gemacht, was das 'Rechtgefühl' ihres Mannes angeht, und sollte deshalb von der
Gelassenheit, die er zeigt, eher beunruhigt sein.
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Denn sie sagte, dass noch mancher andre Reisende, vielleicht minder duldsam als er, über jene Burg ziehen würde, dass es ein Werk
Gottes wäre, Unordnungen gleich diesen Einhalt zu tun ...
Das ist die einzige Stelle, an der die Durchsetzung des Rechtes mit dem Nutzen der Allgemeinheit begründet wird, eine Position, die auch
abzuwägen erlauben würde, von welchem Punkt an der Schaden den Nutzen überwiegt. Kohlhaas jedoch argumentiert so nicht,
für ihn geht es darum, die 'Ordnung der Welt' wieder herzustellen.