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Was ist das Besondere an dieser CD-Rom?
Wer es in der Benutzung noch nicht wahrgenommen hat: Dies ist nicht nur eine vollständige Ausgabe von Fontanes Effi Briest in zwei Rechtschreib-Varianten, auch der ihr angeschlossene Kommentar bietet nach Inhalt und Aufbereitung etwas ganz Neues.

Das inhaltlich Neue
ist, dass hier außer Namen, Zitaten und Begriffen auch Alltags-Sachverhalte umfangreich kommentiert werden, und dies nicht nur bloß in Textform, sondern vielfach auch per Anschauung: an welchen Schauplätzen der Roman spielt, welche Geschäfte aufgesucht werden, welche Zeitungen man liest, welche Bilder man betrachtet, welche Blumen und Pflanzen man wahrnimmt, wie sich das 'Preußenlied' anhört und vieles mehr. Zahlreiche Handlungsmomente, die im Zeitabstand ihre Konturen verloren haben, werden so in das Textverständnis zurückgeholt und der Vorstellung wieder zugänglich gemacht. Dass diese Verdeutlichung - etwa bei historischen Personen - auch desillusionierend sein kann, soll gar nicht bestritten werden. Nur gilt das im Prinzip für jede Kommentierung, selbst noch die herkömmlichste, die nur die literarischen Anspielungen berücksichtigt. Jedes erklärende Hinausgehen über das, was der Text unmittelbar mitteilt, ist eine Infragestellung des oft beschworenen Grundsatzes, dass Literatur ganz aus sich selbst heraus verstanden werden müsse. Nur werden ohne solche Erklärungen ältere Romane leider dunkel, und auf die eine und andere Illusion sollte man ebenso wie auf jenen Grundsatz selbst sowieso besser verzichten.

Es ist aber nicht nur das Moment der Veranschaulichung, in dem dieser Kommentar über die anderen hinausgeht, er bietet auch wissenschaftlich Neues. Noch nie ist so deutlich die Übereinstimmung des fiktiven Kessin mit dem authentischen Swinemünde nachgewiesen worden, noch nie auch wurde dieser lokale Hintergrund zur näheren Kennzeichnung von Effis Verhältnis zu Crampas genutzt. Neu ist auch der Nachweis, dass der 'Schloon' eine reale Erscheinung auf der Insel Usedom gewesen ist, neu sind bestimmte Quellenfunde wie die des 'Baedeker' oder einzelner in dem Roman genannter Bilder, und auch das Verhältnis zwischen Fontanes "Effi Briest" und Spielhagens "Zum Zeitvertreib" sowie beider Beziehung zur Ardenne-Geschichte wird hier neu und genauer wahrgenommen. Schließlich sind auch die fünf illustrierten Effi-Briest-Ausgaben und die vier Verfilmungen noch nirgendwo so im Zusammenhang dokumentiert worden. Ohne dass die Gefahr einer Übertreibung besteht: dies ist die bei weitem umfangreichste und vollständigste Effi-Briest-Edition, die je vorgelegt worden ist, und nur in elektronischer Form ist sie in dieser medialen Breite auch möglich gewesen.

Wegen der Vielzahl der Aspekte und Materialien war im einzelnen allerdings auch Beschränkung geboten. Die vorhandenen Kommentare - der Nymphenburger und der Hanser-Ausgabe, der Ausgaben des Aufbau-Verlags, der Reclam-Erläuterungen usw. - wurden natürlich benutzt und ebenso die gesamte Fachliteratur, doch wurde manche bloße Bildungsreminiszenz auch beiseite gelassen. Dass alles nachrecherchiert und auf den neuesten Kenntnisstand gebracht worden ist, sollte sich bei einer wissenschaftlichen Edition von selbst verstehen, sei aber angesichts mancher sich forterbender Unrichtigkeit doch hinzugefügt. Grundsätzlich gilt: Wo die hier gegebenen Erläuterungen sich von denen anderer Kommentare unterscheiden oder über sie hinausgehen, bieten sie die richtigere, auf den Romanzusammenhang genauer bezogene Sicht. Wesentlichkeit, Verständlichkeit und Zuverlässigkeit - das sind die Grundsätze, nach denen dieser Kommentar erstellt worden ist.

Eine Bemerkung zur Textgestalt:
Die Ausgabe des Aufbau-Verlages von 1998 in der Schreibweise der Erstfassung ist keineswegs fehler- oder auch nur widerspruchsfrei, sie weist vielmehr zahlreiche Unstimmigkeiten auf. Getreu dem Erstdruck stehen hier Cigarre neben Zigarre, Moole neben Mole, Cousine neben Kousine, Hollunder neben Holunder, Coupé neben Koupee und im Bereich der Eigennamen sogar Christel neben Kristel. Nahezu willkürlich ist zudem der Gebrauch der Apostrophe: es kommen beinah und beinah' vor, Innstettens und Innstetten's, hab und hab', mal und 'mal, komm und komm' und was dergleichen Varianten mehr sind. Nur ist dies eben ein Teil der historischen Textgestalt, und es hätte keinen Sinn ergeben, eine 'einwandfreie' Fassung von 1895 nachträglich herzustellen. Die Übertragung dieser Fassung in die jetzt geltende neue Rechtschreibung war der einzig logische Schritt, wobei allerdings auch hier - etwa bei der Kommasetzung - auf einige Eigenheiten Fontanes Rücksicht genommen werden musste.
Ein überraschendes Resultat der Umformung war, dass die Orthographie von 1895 in manchen Fällen der jetztigen Schreibung näher steht als die im 20. Jahrhundert üblich gewordene. Besonders die hier entstandene häufige Zusammenschreibung von Wörtern findet man bei Fontane noch nicht. Er schreibt - so wie jetzt wieder - 'kennen gelernt', 'übrig gelassen', 'frei geworden', 'frei geschaufelt', 'stehen geblieben', 'groß gezogen', 'gut sitzend' (für Kleidung) usw., und es gibt keinen einzigen Fall, wo das zu Irritationen führt. Überhaupt kommt man bei einem Vergleich der beiden Schriftbilder zu dem Ergebnis, dass die als Summe eines Jahrhunderts eingetretenen Veränderungen auf die Textwahrnehmung nahezu keinen Einfluss haben.

Das darstellerisch Neue
ist, dass alle Texte und Materialien für den Gebrauch am Bildschirm aufbereitet worden sind; alle technischen Möglichkeiten, die das elektronische Medium bietet, wurden genutzt. Für den Kommentar ist schon durch die Unterscheidung nach Ebenen - der lebensweltlichen, der gestaltungsbezogenen, der Zitat-Ebene usw. - eine ungewöhnlich transparente Gliederung gegeben, doch können auch hier alle Texte sowohl Kapitel für Kapitel als auch komplett für die Ebenen im Ganzen eingelesen werden. Dass bei internen Verweisen hinter der benannten Stelle ein Link liegt, ist für ein solches System ebenso selbstverständlich wie die Suchmöglichkeit für einzelne Wörter oder Zeichen, doch der zusätzlich eingerichtete Index leistet noch mehr. Er stellt für den Roman ein gefiltertes, sortiertes Wörterverzeichnis dar, in dem man gezielt nach bestimmten Begriffen sehen und somit nach Art eines vollständigen Sachregisters auch entlegene Suchwörter auffinden kann.

Wert gelegt wurde schließlich auch auf die Möglichkeit eigener Einträge und Zusätze. Sie können dem Text kapitelweise hinzugefügt und in der Synopse mit aufgerufen werden. Und auch an eine Druckausgabe wurde gedacht. Für jede der Ebenen steht eine graphisch aufbereitete Druckfassung zur Verfügung, aus der gezielt die zum Druck bestimmten Seiten ausgewählt werden können. Insgesamt wurde die bequemste und selbstverständlichste Benutzbarkeit angestrebt, außer einigen allgemeinen Kenntnissen im Umgang mit dem Computer sollte kein weiteres Vorwissen nötig sein.

Wer sind die Verfasser?
Wie schon der im gleichen Verlag erschienene Kommentar zu Goethes Werther (C.C.Buchners Verlag, Bamberg 2003) ist auch dieser Kommentar das Resultat einer Zusammenarbeit zwischen einem Literaturhistoriker und einem Texttechnologen. Von Bernd W. Seiler (Jahrgang 1939), Professor an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld, stammen Inhalt und Gestaltung, von Jan-Torsten Milde (Jahrgang 1965), Professor für Informatik an der Fachhochschule Aalen, stammen das technische System und die Einrichtung der HTML-Ausgabe. Im Prinzip handelt es sich dabei um dieselbe Technologie, die für den Werther-Kommentar entwickelt worden ist, nur auf die andere Struktur des Fontane-Romans übertragen.

Ein Wort Lessings als Maßstab
Ob es sinnvoll ist, einen so verständlichen Roman wie "Effi Briest" überhaupt zu kommentieren, ist damit freilich nicht entschieden, und niemand wäre zu tadeln, der dieses Werk lieber ohne Kommentierung wahrnähme. Wissen ist stets nur ein Angebot, man muss es sich nicht aneignen. Umfang und Grenzen eines solchen Angebotes stehen allerdings auch für den Kommentierenden immer wieder in Frage. Schon Lessing hat im siebten Kapitel des Laokoon davor gewarnt, literarische Texte - in diesem Falle der Antike - mit einem Zuviel an Bildern und Erläuterungen zu versehen, dem Leser werde dadurch "die schönste Stelle, wenn Gott will, sehr deutlich, aber auch trefflich frostig" gemacht. So wenig es einen für alle verbindlichen Maßstab dabei auch gibt: hoffen wir, dass die Grenze zur Frostigkeit hier nicht überschritten worden ist.
Bielefeld, im Dezember 2003 Bernd W. Seiler