Drei Jahre waren vergangen, und Effi bewohnte seit fast eben so
langer Zeit eine kleine Wohnung in der Königgrätzerstraße,
zwischen Askanischem Platz und Halleschem Thor: ein
Vorder- und Hinterzimmer und hinter diesem die Küche mit
Mädchengelaß, alles so durchschnittsmäßig
und alltäglich wie nur möglich. Und doch war es eine
apart hübsche Wohnung, die jedem, der sie sah, angenehm auffiel,
am meisten vielleicht dem alten Geheimrat Rummschüttel, der,
dann und wann vorsprechend, der armen jungen Frau nicht bloß
die nun weit zurückliegende Rheumatismus- und Neuralgie-Komödie
sondern auch alles, was seitdem sonst noch vorgekommen war, längst
verziehen hatte, wenn es für ihn der Verzeihung überhaupt
bedurfte. Denn Rummschüttel kannte noch ganz anderes.
Er war jetzt ausgangs Siebzig, aber wenn Effi, die seit einiger
Zeit ziemlich viel kränkelte, ihn brieflich um seinen Besuch
bat, so war er am anderen Vormittag auch da und wollte von Entschuldigungen,
daß es so hoch sei, nichts wissen. »Nur keine Entschuldigungen,
meine liebe, gnädigste Frau; denn erstens ist es mein Metier,
und zweitens bin ich glücklich und beinahe stolz, die drei
Treppen so gut noch steigen zu können. Wenn ich nicht fürchten
müßte, Sie zu belästigen - denn ich komme doch
schließlich als Arzt und nicht als Naturfreund und Landschaftsschwärmer
-, so käme ich wohl noch öfter, bloß um Sie zu
sehen und mich hier etliche Minuten an Ihr Hinterfenster zu setzen.
Ich glaube, Sie würdigen den Ausblick nicht genug.«
»O doch, doch,« sagte Effi; Rummschüttel aber ließ
sich nicht stören und fuhr fort: »Bitte, meine gnädigste
Frau, treten Sie hier heran, nur einen Augenblick, oder erlauben
Sie mir, daß ich Sie bis an das Fenster führe. Wieder
ganz herrlich heute. Sehen Sie doch nur die verschiedenen Bahndämme,
drei, nein vier, und wie es beständig darauf hin und her
gleitet ... und nun verschwindet der Zug da wieder hinter einer
Baumgruppe. Wirklich herrlich. Und wie die Sonne den weißen
Rauch durchleuchtet! Wäre der Matthäikirchhof nicht
unmittelbar dahinter, so wäre es ideal.«
»Ich sehe gern Kirchhöfe.«
»Ja, Sie dürfen das sagen. Aber unsereins! Unsereinem
kommt unabweislich immer die Frage, könnten hier nicht vielleicht
einige weniger liegen? Im übrigen, meine gnädigste Frau,
bin ich mit Ihnen zufrieden und beklage nur, daß Sie von
Ems nichts wissen wollen; Ems bei Ihren katarrhalischen Affektionen,
würde Wunder ...«
Effi schwieg.
»Ems würde Wunder thun. Aber da Sie's nicht mögen
(und ich finde mich darin zurecht), so trinken Sie den Brunnen
hier. In drei Minuten sind Sie im Prinz Albrecht'schen Garten,
und wenn auch die Musik und die Toiletten und all' die Zerstreuungen
einer regelrechten Brunnenpromenade fehlen, der Brunnen selbst
ist doch die Hauptsache.«
Effi war einverstanden, und Rummschüttel nahm Hut und Stock.
Aber er trat noch einmal an das Fenster heran. »Ich höre
von einer Terrassierung des Kreuzbergs sprechen, Gott segne die
Stadtverwaltung, und wenn dann erst die kahle Stelle da hinten
mehr in Grün stehen wird ... Eine reizende Wohnung. Ich könnte
Sie fast beneiden ... Und was ich schon längst einmal sagen
wollte, meine gnädige Frau, Sie schreiben mir immer einen
so liebenswürdigen Brief. Nun, wer freute sich dessen nicht?
Aber es ist doch jedesmal eine Mühe ... Schicken Sie mir
doch einfach Roswitha.«
Effi dankte ihm, und so schieden sie.
»Schicken Sie mir doch einfach Roswitha ...« hatte
Rummschüttel gesagt. Ja, war denn Roswitha bei Effi? War
sie denn statt in der Keith- in der Königgrätzerstraße?
Gewiß war sie's und zwar sehr lange schon, gerade so lange,
wie Effi selbst in der Königgrätzerstraße wohnte.
Schon drei Tage vor diesem Einzug hatte sich Roswitha bei ihrer
lieben gnädigen Frau sehen lassen, und das war ein großer
Tag für beide gewesen, so sehr, daß dieses Tages hier
noch nachträglich gedacht werden muß.
Effi hatte damals, als der elterliche Absagebrief aus Hohen-Cremmen
kam und sie mit dem Abendzuge von Ems nach Berlin zurückreiste,
nicht gleich eine selbständige Wohnung genommen, sondern
es mit einem Unterkommen in einem Pensionate versucht. Es war ihr
damit auch leidlich geglückt. Die beiden Damen, die dem Pensionate
vorstanden, waren gebildet und voll Rücksicht und hatten
es längst verlernt, neugierig zu sein. Es kam da so vieles
zusammen, daß ein Eindringenwollen in die Geheimnisse jedes
einzelnen viel zu umständlich gewesen wäre. Dergleichen
hinderte nur den Geschäftsgang. Effi, die die mit den Augen
angestellten Kreuzverhöre der Zwicker noch in Erinnerung
hatte, fühlte sich denn auch von dieser Zurückhaltung
der Pensionsdamen sehr angenehm berührt, als aber vierzehn
Tage vorüber waren, empfand sie doch deutlich, daß
die hier herrschende Gesamtatmosphäre, die physische wie
die moralische, nicht wohl ertragbar für sie sei. Bei Tisch
waren sie zumeist zu sieben, und zwar außer Effi und der einen
Pensionsvorsteherin (die andere leitete draußen das Wirtschaftliche)
zwei die Hochschule besuchende Engländerinnen, eine adelige
Dame aus Sachsen, eine sehr hübsche galizische Jüdin,
von der niemand wußte, was sie eigentlich vorhatte, und
eine Kantorstochter aus Polzin in Pommern, die Malerin werden
wollte. Das war eine schlimme Zusammensetzung, und die gegenseitigen
Überheblichkeiten, bei denen die Engländerinnen merkwürdigerweise
nicht absolut obenan standen, sondern mit der vom höchsten
Malergefühl erfüllten Polzinerin um die Palme rangen,
waren unerquicklich; dennoch wäre Effi, die sich passiv verhielt,
über den Druck, den diese geistige Atmosphäre übte,
hinweggekommen, wenn nicht, rein physisch und äußerlich,
die sich hinzugesellende Pensionsluft gewesen wäre. Woraus
sich diese eigentlich zusammensetzte, war vielleicht überhaupt
unerforschlich, aber daß sie der sehr empfindlichen Effi
den Atem raubte, war nur zu gewiß, und so sah sie sich,
aus diesem äußerlichen Grunde, sehr bald schon zur
Aus- und Umschau nach einer anderen Wohnung gezwungen, die sie
denn auch in verhältnismäßiger Nähe fand.
Es war dies die vorgeschilderte Wohnung in der Königgrätzerstraße.
Sie sollte dieselbe zu Beginn des Herbstvierteljahres
beziehen, hatte das Nötige dazu beschafft und zählte
während der letzten Septembertage die Stunden bis zur Erlösung
aus dem Pensionat.
An einem dieser letzten Tage - sie hatte sich eine Viertelstunde
zuvor aus dem Eßzimmer zurückgezogen und gedachte sich
eben auf einem mit einem großblumigen Wollstoff überzogenen
Seegras-Sofa auszuruhen -, wurde leise an ihre Thür geklopft.
»Herein.«
Das eine Hausmädchen, eine kränklich aussehende Person
von Mitte Dreißig, die, durch beständigen Aufenthalt
auf dem Korridor des Pensionats, den hier lagernden Dunstkreis
überall hin in ihren Falten mitschleppte, trat ein und sagte:
Die gnädige Frau möchte entschuldigen, aber es wolle
sie jemand sprechen.
»Wer?«
»Eine Frau.«
»Und hat sie ihren Namen genannt?«
»Ja. Roswitha.«
Und siehe da, kaum daß Effi diesen Namen gehört hatte,
so schüttelte sie den Halbschlaf von sich und sprang auf
und lief auf den Korridor hinaus, um Roswitha bei beiden Händen
zu fassen und in ihr Zimmer zu ziehen.
»Roswitha. Du. Ist das eine Freude. Was bringst Du? Natürlich
'was Gutes. Ein so gutes altes Gesicht kann nur 'was Gutes bringen.
Ach, wie glücklich ich bin, ich könnte Dir einen Kuß
geben; ich hätte nicht gedacht, daß ich noch solche
Freude haben könnte. Mein gutes altes Herz, wie geht es Dir
denn? Weißt Du noch, wie's damals war, als der Chinese spukte?
Das waren glückliche Zeiten. Ich habe damals gedacht, es
wären unglückliche, weil ich das Harte des Lebens noch
nicht kannte. Seitdem habe ich es kennen gelernt. Ach, Spuk ist
lange nicht das schlimmste! Komm, meine gute Roswitha, komm, setze
Dich hier zu mir und erzähle mir ... Ach, ich habe solche
Sehnsucht. Was macht Annie?«
Roswitha konnte kaum reden und sah sich in dem sonderbaren Zimmer
um, dessen grau und verstaubt aussehende Wände in schmale
Goldleisten gefaßt waren. Endlich aber fand sie sich und
sagte, daß der gnädige Herr nun wieder aus Glatz zurück
sei; der alte Kaiser habe gesagt, »sechs Wochen in solchem Falle
sei gerade genug,« und auf den Tag, wo der gnädige Herr wieder
da sein würde, darauf habe sie bloß gewartet, wegen
Annie, die doch eine Aufsicht haben müsse. Denn Johanna sei
wohl eine sehr propre Person, aber sie sei doch noch zu hübsch
und beschäftige sich noch zu viel mit sich selbst und denke
vielleicht Gott weiß was alles. Aber nun, wo der gnädige
Herr wieder aufpassen und in allem nach dem Rechten sehen könne,
da habe sie sich's doch antun wollen und 'mal sehen, wie's der
gnädigen Frau gehe ...
»Das ist recht, Roswitha ...«
Und habe 'mal sehen wollen, ob der gnädigen Frau was fehle
und ob sie sie vielleicht brauche, dann wolle sie gleich hier bleiben
und beispringen und alles machen und dafür sorgen, daß
es der gnädigen Frau wieder gut ginge.
Effi hatte sich in die Sofaecke zurückgelehnt und die Augen
geschlossen. Aber mit eins richtete sie sich auf und sagte: »Ja,
Roswitha, was Du da sagst, das ist ein Gedanke; das ist 'was. Denn
Du mußt wissen, ich bleibe hier nicht in dieser Pension,
ich habe da weiterhin eine Wohnung gemietet und auch Einrichtung
besorgt und in drei Tagen will ich da einziehen. Und wenn ich
da mit Dir ankäme und zu Dir sagen könnte: 'Nein, Roswitha,
da nicht, der Schrank muß dahin und der Spiegel da', ja,
das wäre 'was, das sollte mir schon gefallen. Und wenn wir
dann müde von all' der Plackerei wären, dann sagte ich:
'Nun, Roswitha, gehe da hinüber und hole uns eine Karaffe
Spatenbräu, denn wenn man gearbeitet hat, dann will man doch
auch trinken, und wenn Du kannst, so bring' uns auch etwas Gutes
aus dem Habsburger Hof mit, Du kannst ja das Geschirr nachher
wieder herüber bringen,-' ja, Roswitha, wenn ich mir das denke,
da wird mir ordentlich leichter ums Herz. Aber ich muß Dich
doch fragen, hast Du Dir auch alles überlegt? Von Annie will
ich nicht sprechen, an der Du doch hängst, sie ist ja fast
wie Dein eigen Kind, - aber trotzdem, für Annie wird schon
gesorgt werden, und die Johanna hängt ja auch an ihr. Also
davon nichts. Aber bedenke, wie sich alles verändert hat,
wenn Du wieder zu mir willst. Ich bin nicht mehr wie damals; ich
habe jetzt eine ganz kleine Wohnung genommen, und der Portier
wird sich wohl nicht sehr um Dich und um mich bemühen. Und
wir werden eine sehr kleine Wirtschaft haben, immer das, was wir
sonst unser Donnerstag-Essen nannten, weil da rein gemacht wurde.
Weißt Du noch? Und weißt Du noch, wie der gute Gieshübler
'mal dazu kam und sich zu uns setzen mußte, und wie er dann
sagte: 'So 'was Delikates habe er noch nie gegessen.' Du wirst Dich
noch erinnern, er war immer so schrecklich artig, denn eigentlich
war er doch der einzige Mensch in der Stadt, der von Essen 'was
verstand. Die andern fanden alles schön.«
Roswitha freute sich über jedes Wort und sah schon alles
in bestem Gange, bis Effi wieder sagte: »Hast Du Dir das
alles überlegt? Denn Du bist doch - ich muß das sagen,
wiewohl es meine eigne Wirtschaft war -, Du bist doch nun durch
viele Jahre hin verwöhnt, und es kam nie darauf an, wir hatten
es nicht nötig, sparsam zu sein; aber jetzt muß ich
sparsam sein, denn ich bin arm und habe nur, was man mir giebt,
Du weißt von Hohen-Cremmen her. Meine Eltern sind sehr
gut gegen mich, soweit sie's können, aber sie sind nicht
reich. Und nun sage, was meinst Du?«
»Daß ich nächsten Sonnabend mit meinem Koffer
anziehe, nicht am Abend, sondern gleich am Morgen, und daß
ich da bin, wenn das Einrichten losgeht. Denn ich kann doch ganz
anders zufassen, wie die gnädige Frau.«
»Sage das nicht, Roswitha. Ich kann es auch. Wenn man muß,
kann man alles.«
»Und dann, gnädige Frau, Sie brauchen sich wegen meiner
nicht zu fürchten, als ob ich 'mal denken könnte: 'für
Roswitha ist das nicht gut genug.' Für Roswitha ist alles
gut, was sie mit der gnädigen Frau teilen muß, und
am liebsten, wenn es 'was Trauriges ist. Ja, darauf freue ich mich
schon ordentlich. Dann sollen Sie 'mal sehen, das verstehe ich.
Und wenn ich es nicht verstünde, dann wollte ich es schon
lernen. Denn, gnädige Frau, das hab' ich nicht vergessen,
als ich da auf dem Kirchhof saß, mutterwindallein und bei
mir dachte, nun wäre es doch wohl das beste, ich läge
da gleich mit in der Reihe. Wer kam da? Wer hat mich da bei Leben
erhalten? Ach, ich habe so viel durchzumachen gehabt. Als mein
Vater damals mit der glühenden Stange auf mich los kam ...
«
»Ich weiß schon, Roswitha ...«
»Ja, das war schlimm genug. Aber als ich da auf dem Kirchhof
saß, so ganz arm und verlassen, das war doch noch schlimmer.
Und da kam die gnädige Frau. Und ich will nicht selig werden,
wenn ich das vergesse.«
Und dabei stand sie auf und ging aufs Fenster zu. »Sehen
Sie, gnädige Frau, den müssen Sie doch auch noch sehen.«
Und nun trat auch Effi heran.
Drüben, auf der anderen Seite der Straße, saß
Rollo und sah nach den Fenstern der Pension hinauf.
Wenige Tage danach bezog Effi, von Roswitha unterstützt,
ihre Wohnung in der Königgrätzerstraße, darin
es ihr von Anfang an gefiel. Umgang fehlte freilich, aber sie
hatte während ihrer Pensionstage von dem Verkehr mit Menschen
so wenig Erfreuliches gehabt, daß ihr das Alleinsein nicht
schwer fiel, wenigstens anfänglich nicht. Mit Roswitha ließ
sich allerdings kein ästhetisches Gespräch führen,
auch nicht 'mal sprechen über das, was in der Zeitung stand;
aber wenn es einfach menschliche Dinge betraf und Effi mit einem
'ach, Roswitha, mich ängstigt es wieder ...' ihren
Satz begann, dann wußte die treue Seele jedesmal gut zu
antworten und hatte immer Trost und meist auch Rat.
Bis Weihnachten ging es vorzüglich; aber der Heiligabend
verlief schon recht traurig, und als das neue Jahr herankam, begann
Effi ganz schwermütig zu werden. Es war nicht kalt, nur grau
und regnerisch, und wenn die Tage kurz waren, so waren die Abende
desto länger. Was thun? Sie las, sie stickte, sie legte Patience,
sie spielte Chopin, aber diese Nocturnes waren auch nicht angethan,
viel Licht in ihr Leben zu tragen, und wenn Roswitha mit dem Theebrett
kam und außer dem Theezeug auch noch zwei Tellerchen mit
einem Ei und einem in kleine Scheiben geschnittenen Wiener Schnitzel
auf den Tisch setzte, sagte Effi, während sie das Piano schloß:
»Rücke heran, Roswitha. Leiste mir Gesellschaft.«
Roswitha kam denn auch. »Ich weiß schon, die gnädige
Frau haben wieder zu viel gespielt; dann sehen Sie immer so aus
und haben rote Flecke. Der Geheimrat hat es doch verboten.«
»Ach, Roswitha, der Geheimrat hat leicht verbieten, und Du
hast es auch leicht, all' das nachzusprechen. Aber was soll ich
denn machen? Ich kann doch nicht den ganzen Tag am Fenster sitzen
und nach der Christuskirche hinübersehen. Sonntags, beim
Abendgottesdienst, wenn die Fenster beleuchtet sind, sehe ich
ja immer hinüber; aber es hilft mir auch nichts, mir wird
dann immer noch schwerer ums Herz.«
»Ja, gnädige Frau, dann sollten Sie 'mal hineingehen.
Einmal waren Sie ja schon drüben.«
»O schon öfters. Aber ich habe nicht viel davon gehabt.
Er predigt ganz gut und ist ein sehr kluger Mann, und ich wäre
froh, wenn ich das Hundertste davon wüßte. Aber es
ist doch alles bloß, wie wenn ich ein Buch lese; und wenn
er dann so laut spricht und herumficht und seine schwarzen Locken
schüttelt, dann bin ich aus meiner Andacht heraus.«
»Heraus?«
Effi lachte. »Du meinst, ich war noch gar nicht drin. Und
es wird wohl so sein. Aber an wem liegt das? Das liegt doch nicht
an mir. Er spricht immer so viel vom Alten Testament. Und wenn
es auch ganz gut ist, es erbaut mich nicht. Überhaupt all'
das Zuhören; es ist nicht das rechte. Sieh', ich müßte
so viel zu thun haben, daß ich nicht ein noch aus wüßte.
Das wäre 'was für mich. Da giebt es so Vereine, wo junge
Mädchen die Wirtschaft lernen oder Nähschulen oder
Kindergärtnerinnen. Hast Du nie davon gehört?«
»Ja, ich habe 'mal davon gehört. Anniechen sollte 'mal
in einen Kindergarten.«
»Nun, siehst Du, Du weißt es besser als ich. Und in
solchen Verein, wo man sich nützlich machen kann, da möchte
ich eintreten. Aber daran ist gar nicht zu denken; die Damen nehmen
mich nicht an und können es auch nicht. Und das ist das schrecklichste,
daß einem die Welt so zu ist und daß es sich einem
sogar verbietet, bei Gutem mit dabei zu sein. Ich kann nicht 'mal
armen Kindern eine Nachhülfestunde geben ...«
»Das wäre auch nichts für Sie, gnädige Frau;
die Kinder haben immer so fettige Stiefel an, und wenn es nasses
Wetter ist - das ist dann solch' Dunst und Schmook, das halten
die gnädige Frau gar nicht aus.«
Effi lächelte. »Du wirst wohl recht haben, Roswitha;
aber es ist schlimm, daß Du recht hast, und ich sehe daran,
daß ich noch zu viel von dem alten Menschen in mir habe
und daß es mir noch zu gut geht.«
Davon wollte aber Roswitha nichts wissen. »Wer so gut ist,
wie gnädige Frau, dem kann es gar nicht zu gut gehen. Und
Sie müssen nur nicht immer so 'was Trauriges spielen, und
mitunter denke ich mir, es wird alles noch wieder gut und es
wird sich schon 'was finden.«
Und es fand sich auch 'was. Effi, trotz der Kantorstochter aus
Polzin, deren Künstlerdünkel ihr immer noch als etwas
Schreckliches vorschwebte, wollte Malerin werden, und wiewohl
sie selber darüber lachte, weil sie sich bewußt war,
über eine unterste Stufe des Dilettantismus nie hinauskommen
zu können, so griff sie doch mit Passion danach, weil sie
nun eine Beschäftigung hatte, noch dazu eine, die, weil still
und geräuschlos, ganz nach ihrem Herzen war. Sie meldete
sich denn auch bei einem ganz alten Malerprofessor, der in der
märkischen Aristokratie sehr bewandert und zugleich so fromm
war, daß ihm Effi von Anfang an ans Herz gewachsen erschien.
Hier, so gingen wohl seine Gedanken, war eine Seele zu retten,
und so kam er ihr, als ob sie seine Tochter gewesen wäre,
mit einer ganz besonderen Liebenswürdigkeit entgegen. Effi
war sehr glücklich darüber, und der Tag ihrer ersten
Malstunde bezeichnete für sie einen Wendepunkt zum Guten.
Ihr armes Leben war nun nicht so arm mehr, und Roswitha triumphierte,
daß sie recht gehabt und sich nun doch etwas gefunden habe.
Das ging so Jahr und Tag und darüber hinaus. Aber daß
sie nun wieder eine Berührung mit den Menschen hatte, wie
sie's beglückte, so ließ es auch wieder den Wunsch
in ihr entstehen, daß diese Berührungen sich erneuern
und mehren möchten. Sehnsucht nach Hohen-Cremmen erfaßte
sie mitunter mit einer wahren Leidenschaft, und noch leidenschaftlicher
sehnte sie sich danach, Annie wiederzusehen. Es war doch ihr Kind,
und wenn sie dem nachhing und sich dabei gleichzeitig der Trippelli
erinnerte, die 'mal gesagt hatte: 'die Welt sei so klein und in
Mittelafrika könne man sicher sein, plötzlich einem
alten Bekannten zu begegnen,' so war sie mit Recht verwundert,
Annie noch nie getroffen zu haben. Aber auch das sollte sich eines
Tages ändern. Sie kam aus der Malstunde, dicht am Zoologischen
Garten, und stieg, nahe dem Halteplatz, in einen die lange Kurfürstenstraße
passierenden Pferdebahnwagen ein. Es war sehr heiß, und
die herabgelassenen Vorhänge, die bei dem starken Luftzuge,
der ging, hin und her bauschten, thaten ihr wohl. Sie lehnte sich
in die dem Vorderperron zugekehrte Ecke und musterte eben mehrere
in eine Glasscheibe eingebrannte Sofas, blau mit Quasten und Puscheln
daran, als sie - der Wagen war gerade in einem langsamen Fahren
- drei Schulkinder aufspringen sah, die Mappen auf dem Rücken,
mit kleinen spitzen Hüten, zwei blond und ausgelassen, die
dritte dunkel und ernst. Es war Annie. Effi fuhr heftig zusammen,
und eine Begegnung mit dem Kinde zu haben, wonach sie sich doch
so lange gesehnt, erfüllte sie jetzt mit einer wahren Todesangst.
Was thun? Rasch entschlossen öffnete sie die Thür zu dem
Vorderperron, auf dem niemand stand, als der Kutscher, und bat
diesen, sie bei der nächsten Haltestelle vorn absteigen zu
lassen. »Is verboten, Fräulein,« sagte der Kutscher;
sie gab ihm aber ein Geldstück und sah ihn so bittend an,
daß der gutmütige Mensch anderen Sinnes wurde und vor sich
hin sagte: »Sind soll es eigentlich nich; aber es wird ja
woll 'mal gehn.« Und als der Wagen hielt, nahm er das Gitter
aus, und Effi sprang ab.
Noch in großer Erregung kam Effi nach Hause.
»Denke Dir, Roswitha, ich habe Annie gesehen.« Und nun
erzählte sie von der Begegnung in dem Pferdebahnwagen. Roswitha
war unzufrieden, daß Mutter und Tochter keine Wiedersehensszene
gefeiert hatten und ließ sich nur ungern überzeugen,
daß das, in Gegenwart so vieler Menschen, nicht wohl angegangen
sei. Dann mußte Effi erzählen, wie Annie ausgesehen
habe, und als sie das mit mütterlichem Stolz gethan, sagte
Roswitha: »Ja, sie ist so halb und halb. Das Hübsche
und, wenn ich es sagen darf, das Sonderbare, das hat sie von der
Mama; aber das Ernste, das ist ganz der Papa. Und wenn ich mir
so alles überlege, ist sie doch wohl mehr wie der gnädige
Herr.«
»Gott sei Dank!« sagte Effi.
»Na, gnäd'ge Frau, das ist nu doch auch noch die Frage.
Und da wird ja wohl mancher sein, der mehr für die Mama ist.«
»Glaubst Du, Roswitha? Ich glaube es nicht.«
»Na, na, ich lasse mir nichts vormachen, und ich glaube,
die gnädige Frau weiß auch ganz gut, wie's eigentlich
ist und was die Männer am liebsten haben.«
»Ach, sprich nicht davon, Roswitha.«
Damit brach das Gespräch ab und wurde auch nicht wieder aufgenommen.
Aber Effi, wenn sie's auch vermied, grade über Annie mit
Roswitha zu sprechen, konnte die Begegnung in ihrem Herzen doch
nicht verwinden und litt unter der Vorstellung, vor ihrem eigenen
Kinde geflohen zu sein. Es quälte sie bis zur Beschämung,
und das Verlangen nach einer Begegnung mit Annie steigerte sich
bis zum Krankhaften. An Innstetten schreiben und ihn darum bitten,
das war nicht möglich. Ihrer Schuld war sie sich wohl bewußt,
ja, sie nährte das Gefühl davon mit einer halb leidenschaftlichen
Geflissentlichkeit; aber inmitten ihres Schuldbewußtseins
fühlte sie sich andererseits auch von einer gewissen Auflehnung
gegen Innstetten erfüllt. Sie sagte sich, er hatte recht
und noch einmal und noch einmal, und zuletzt hatte er doch unrecht.
Alles Geschehene lag so weit zurück, ein neues Leben hatte
begonnen, - er hätte es können verbluten lassen, statt
dessen verblutete der arme Crampas.
Nein, an Innstetten schreiben, das ging nicht; aber Annie wollte
sie sehen und sprechen und an ihr Herz drücken, und nachdem
sie's tagelang überlegt hatte, stand ihr fest, wie's am besten
zu machen sei.
Gleich am andern Vormittage kleidete sie sich sorgfältig in
ein decentes Schwarz und ging auf die Linden zu, sich hier bei
der Ministerin melden zu lassen. Sie schickte ihre Karte hinein,
auf der nur stand: Effi von Innstetten geb. von Briest. Alles
andere war fortgelassen, auch die Baronin. »Exzellenz lassen
bitten,« und Effi folgte dem Diener bis in ein Vorzimmer,
wo sie sich niederließ und trotz der Erregung, in der sie
sich befand, den Bilderschmuck an den Wänden musterte. Da
war zunächst Guido Reni's Aurora, gegenüber aber hingen
englische Kupferstiche, Stiche nach Benjamin West, in der bekannten
Aquatinta-Manier von viel Licht und Schatten. Eines der Bilder
war König Lear im Unwetter auf der Heide.
Effi hatte ihre Musterung kaum beendet, als die Thür des angrenzenden
Zimmers sich öffnete und eine große schlanke Dame
von einem sofort für sie einnehmenden Ausdruck auf die Bittstellerin
zutrat und ihr die Hand reichte. »Meine liebe, gnädigste
Frau,« sagte sie, »welche Freude für mich, Sie
wiederzusehen ...«
Und während sie das sagte, schritt sie auf das Sofa zu und
zog Effi, während sie selber Platz nahm, zu sich nieder.
Effi war bewegt durch die sich in allem aussprechende Herzensgüte.
Keine Spur von Überheblichkeit oder Vorwurf, nur menschlich
schöne Teilnahme. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
nahm die Ministerin noch einmal das Wort.
Um Effi's Mund zuckte es. Endlich sagte sie. »Was mich herführt,
ist eine Bitte, deren Erfüllung Exzellenz vielleicht möglich
machen. Ich habe eine zehnjährige Tochter, die ich seit drei
Jahren nicht gesehen habe und gern wiedersehen möchte.«
Die Ministerin nahm Effi's Hand und sah sie freundlich an.
»Wenn ich sage, in drei Jahren nicht gesehen, so ist das nicht ganz
richtig. Vor drei Tagen habe ich sie wiedergesehen.« Und
nun schilderte Effi mit großer Lebendigkeit die Begegnung,
die sie mit Annie gehabt hatte. »Vor meinem eigenen Kinde
auf der Flucht. Ich weiß wohl, man liegt, wie man sich bettet,
und ich will nichts ändern in meinem Leben. Wie es ist, so
ist es recht; ich habe es nicht anders gewollt. Aber das mit dem
Kinde, das ist doch zu hart, und so habe ich denn den Wunsch,
es dann und wann sehen zu dürfen, nicht heimlich und verstohlen,
sondern mit Wissen und Zustimmung aller Beteiligten.«
»Unter Wissen und Zustimmung aller Beteiligten,« wiederholte
die Ministerin Effi's Worte. »Das heißt also unter Zustimmung
Ihres Herrn Gemahls. Ich sehe, daß seine Erziehung dahin
geht, das Kind von der Mutter fernzuhalten, ein Verfahren, über
das ich mir kein Urteil erlaube. Vielleicht, daß er recht
hat; verzeihen Sie mir diese Bemerkung, gnädige Frau.«
Effi nickte.
»Sie finden sich selbst in der Haltung Ihres Herrn Gemahls
zurecht und verlangen nur, daß einem natürlichen Gefühle,
wohl dem schönsten unserer Gefühle (wenigstens wir Frauen
werden uns darin finden), sein Recht werde. Treff' ich es darin?«
»In allem.«
»Und so soll ich denn die Erlaubnis zu gelegentlichen Begegnungen
erwirken, in Ihrem Hause, wo Sie versuchen können, sich das
Herz Ihres Kindes zurückzuerobern.«
Effi drückte noch einmal ihre Zustimmung aus, während
die Ministerin fortfuhr: »Ich werde also thun, meine gnädigste
Frau, was ich thun kann. Aber wir werden es nicht eben leicht haben.
Ihr Herr Gemahl, verzeihen Sie, daß ich ihn nach wie vor
so nenne, ist ein Mann, der nicht nach Stimmungen und Laune, sondern
nach Grundsätzen handelt und diese fallen zu lassen oder auch
nur momentan aufzugeben, wird ihn hart ankommen. Läg' es
nicht so, so wäre seine Handlungs- und Erziehungsweise längst
eine andere gewesen. Das, was hart für Ihr Herz ist, hält
er für richtig.«
»So meinen Exzellenz vielleicht, es wäre besser, meine
Bitte zurückzunehmen?«
»Doch nicht. Ich wollte nur das Thun Ihres Herrn Gemahls erklären,
um nicht zu sagen rechtfertigen, und wollte zugleich die Schwierigkeiten
andeuten, auf die wir, aller Wahrscheinlichkeit nach, stoßen
werden. Aber ich denke, wir zwingen es trotzdem. Denn wir Frauen,
wenn wir's klug einleiten, und den Bogen nicht überspannen,
wissen mancherlei durchzusetzen. Zudem gehört Ihr Herr Gemahl
zu meinen besonderen Verehrern, und er wird mir eine Bitte, die
ich an ihn richte, nicht wohl abschlagen. Wir haben morgen einen
kleinen Zirkel, auf dem ich ihn sehe, und übermorgen früh
haben Sie ein paar Zeilen von mir, die Ihnen sagen werden, ob
ich's klug, das heißt glücklich eingeleitet oder nicht.
Ich denke, wir siegen in der Sache, und Sie werden Ihr Kind wiedersehen
und sich seiner freuen. Es soll ein sehr schönes Mädchen
sein. Nicht zu verwundern.«
