Innstetten war erst vier Tage fort, als Crampas von Stettin wieder
eintraf und die Nachricht brachte, man hätte höheren
Orts die Absicht, zwei Schwadronen nach Kessin zu legen, endgültig
fallen lassen; es gäbe so viele kleine Städte, die sich
um eine Kavallerie-Garnison, und nun gar um Blücher'sche Husaren,
bewürben, daß man gewohnt sei, bei solchem Anerbieten
einem herzlichen Entgegenkommen, aber nicht einem zögernden
zu begegnen. Als Crampas das mitteilte, machte der Magistrat ein
ziemlich verlegenes Gesicht; nur Gieshübler, weil er der
Philisterei seiner Kollegen eine Niederlage gönnte, triumphierte.
Seitens der kleinen Leute griff, beim Bekanntwerden der Nachricht,
eine gewisse Verstimmung Platz, ja selbst einige Konsuls mit Töchtern
waren momentan unzufrieden; im ganzen aber kam man rasch über
die Sache hin, vielleicht weil die nebenherlaufende Frage, »was
Innstetten in Berlin vorhabe,« die Kessiner Bevölkerung oder
doch wenigstens die Honoratiorenschaft der Stadt mehr interessierte.
Diese wollte den überaus wohlgelittenen Landrat nicht gern
verlieren, und doch gingen darüber ganz ausschweifende Gerüchte,
die von Gieshübler, wenn er nicht ihr Erfinder war, wenigstens
genährt und weiter verbreitet wurden. Unter anderem hieß
es, Innstetten würde als Führer einer Gesandtschaft
nach Marokko gehn und zwar mit Geschenken, unter denen nicht
bloß die herkömmliche Vase mit Sanssouci und dem neuen
Palais, sondern vor allem auch eine große Eismaschine sei.
Das letztere erschien, mit Rücksicht auf die marokkanischen
Temperaturverhältnisse, so wahrscheinlich, daß das Ganze
geglaubt wurde.
Effi hörte auch davon. Die Tage, wo sie sich darüber
erheitert hätte, lagen noch nicht allzu weit zurück;
aber in der Seelenstimmung, in der sie sich seit Schluß
des Jahres befand, war sie nicht mehr fähig, unbefangen und
ausgelassen über derlei Dinge zu lachen. Ihre Gesichtszüge
hatten einen ganz anderen Ausdruck angenommen und das halb rührend,
halb schelmisch Kindliche, was sie noch als Frau gehabt hatte,
war hin. Die Spaziergänge nach dem Strand und der Plantage,
die sie, während Crampas in Stettin war, aufgegeben hatte,
nahm sie nach seiner Rückkehr wieder auf und ließ sich
auch durch ungünstige Witterung nicht davon abhalten. Es
wurde wie früher bestimmt, daß ihr Roswitha bis an
den Ausgang der Reeperbahn oder bis in die Nähe des Kirchhofs
entgegenkommen solle, sie verfehlten sich aber noch häufiger
als früher. »Ich könnte Dich schelten, Roswitha,
daß Du mich nie findest. Aber es hat nichts auf sich; ich
ängstige mich nicht mehr, auch nicht einmal am Kirchhof,
und im Wald bin ich noch keiner Menschenseele begegnet.«
Es war am Tage vor Innstetten's Rückkehr von Berlin, daß
Effi das sagte. Roswitha machte nicht viel davon und beschäftigte
sich lieber damit, Girlanden über den Türen anzubringen;
auch der Haifisch bekam einen Fichtenzweig und sah noch merkwürdiger
aus als gewöhnlich. Effi sagte: »Das ist recht, Roswitha;
er wird sich freuen über all' das Grün, wenn er morgen
wieder da ist. Ob ich heute wohl noch gehe? Doktor Hannemann besteht
darauf und meint in einem fort, ich nähme es nicht ernst
genug, sonst müßte ich besser ausseh'n; ich habe aber
keine rechte Lust heut, es nieselt und der Himmel ist so grau.«
»Ich werde der gnäd'gen Frau den Regenmantel bringen.«
»Das thu'! Aber komme heute nicht nach, wir treffen uns ja
doch nicht,« und sie lachte. »Wirklich, Du bist gar
nicht findig, Roswitha. Und ich mag nicht, daß Du Dich erkältest
und alles um nichts.«
Roswitha blieb denn auch zu Haus, und weil Annie schlief, ging
sie zu Kruse's, um mit der Frau zu plaudern. »Liebe Frau Kruse,«
sagte sie, »Sie wollten mir ja das mit dem Chinesen noch
erzählen. Gestern kam die Johanna dazwischen, die thut immer
so vornehm, für die ist so 'was nicht. Ich glaube aber doch,
daß es 'was gewesen ist, ich meine mit dem Chinesen und mit
Thomsen's Nichte, wenn es nicht seine Enkelin war.«
Die Kruse nickte.
»Entweder,« fuhr Roswitha fort, »war es eine unglückliche
Liebe (die Kruse nickte wieder), oder es kann auch eine glückliche
gewesen sein und der Chinese konnte es bloß nicht aushalten,
daß es alles mit einemmal so wieder vorbei sein sollte.
Denn die Chinesen sind doch auch Menschen, und es wird wohl alles
ebenso mit ihnen sein, wie mit uns.«
»Alles,« versicherte die Kruse und wollte dies eben
durch ihre Geschichte bestätigen, als ihr Mann eintrat und sagte:
»Mutter, Du könntest
mir die Flasche mit dem Lederlack geben; ich muß doch das
Sielenzeug blank haben, wenn der Herr morgen wieder da ist; der
sieht alles und wenn er auch nichts sagt, so merkt man doch,
daß er's gesehn hat.«
»Ich bring' es Ihnen 'raus, Kruse,« sagte Roswitha. »Ihre
Frau will mir bloß noch 'was erzählen; aber es ist gleich
aus, und dann komm' ich und bring' es.«
Roswitha, die Flasche mit dem Lack in der Hand, kam denn auch
ein paar Minuten danach auf den Hof hinaus und stellte sich neben
das Sielenzeug, das Kruse eben über den Gartenzaun gelegt
hatte. »Gott,« sagte er, während er ihr die Flasche
aus der Hand nahm, »viel hilft es ja nicht, es nieselt in
einem weg, und die Blänke vergeht doch wieder. Aber ich denke,
alles muß seine Ordnung haben.«
»Das muß es. Und dann, Kruse, es ist ja doch auch ein
richtiger Lack, das kann ich gleich sehn, und was ein richtiger
Lack ist, der klebt nicht lange, der muß gleich trocknen.
Und wenn es dann morgen nebelt oder naß fällt, dann
schadet es nich' mehr. Aber das muß ich doch sagen, das
mit dem Chinesen is eine merkwürdige Geschichte.«
Kruse lachte. »Unsinn is es, Roswitha. Und meine Frau, statt
aufs Richtige zu sehen, erzählt immer so 'was, un' wenn ich
ein reines Hemd anziehen will, fehlt ein Knopp. Un' so is es nu'
schon so lange wir hier sind. Sie hat immer bloß solche
Geschichten in ihrem Kopp und dazu das schwarze Huhn. Un das schwarze
Huhn legt nich' 'mal Eier. Un' am Ende wovon soll es auch Eier legen?
Es kommt ja nich' 'raus und von's bloße Kikeriki kann doch
so 'was nich' kommen. Das is von keinem Huhn nich' zu verlangen.«
»Hören Sie, Kruse, das werde ich Ihrer Frau wieder erzählen.
Ich habe Sie immer für einen anständigen Menschen gehalten,
und nun sagen Sie so 'was wie das da von Kikeriki. Die Mannsleute
sind doch immer noch schlimmer als man denkt. Un' eigentlich müßt
ich nu' gleich den Pinsel hier nehmen und Ihnen einen schwarzen
Schnurrbart anmalen.«
»Nu' von Ihnen, Roswitha, kann man sich das schon gefallen
lassen,« und Kruse, der meist den Würdigen spielte,
schien in einen mehr und mehr schäkrigen Ton übergehen
zu wollen, als er plötzlich der gnädigen Frau ansichtig
wurde, die heute von der anderen Seite der Plantage herkam und
in eben diesem Augenblicke den Gartenzaun passierte.
»Guten Tag, Roswitha, Du bist ja so ausgelassen. Was macht
denn Annie?«
»Sie schläft, gnäd'ge Frau.«
Aber Roswitha, als sie das sagte, war doch rot geworden und ging,
rasch abbrechend, auf das Haus zu, um der gnädigen Frau beim
Umkleiden behülflich zu sein. Denn ob Johanna da war, das war
die Frage. Die steckte jetzt viel auf dem 'Amt' drüben,
weil es zu Haus weniger zu thun gab und Friedrich und Christel
waren ihr zu langweilig und wußten nie 'was.
Annie schlief noch. Effi beugte sich über die Wiege, ließ
sich dann Hut und Regenmantel abnehmen und setzte sich auf das
kleine Sofa in ihrer Schlafstube. Das feuchte Haar strich sie
langsam zurück, legte die Füße auf einen niedrigen
Stuhl, den Roswitha heran geschoben, und sagte, während sie
sichtlich das Ruhebehagen nach einem ziemlich langen Spaziergange
genoß: »Ich muß Dich darauf aufmerksam machen,
Roswitha, daß Kruse verheiratet ist.«
»Ich weiß, gnäd'ge Frau.«
»Ja, was weiß man nicht alles und handelt doch, als
ob man es nicht wüßte. Das kann nie 'was werden.«
»Es soll ja auch nichts werden, gnäd'ge Frau ...«
»Denn wenn Du denkst, sie sei krank, da machst Du die Rechnung
ohne den Wirt. Die Kranken leben am längsten. Und dann hat
sie das schwarze Huhn. Vor dem hüte Dich, das weiß
alles und plaudert alles aus. Ich weiß nicht, ich habe einen
Schauder davor. Und ich wette, daß das alles da oben mit
dem Huhn zusammenhängt.«
»Ach, das glaub' ich nicht. Aber schrecklich ist es doch.
Und Kruse, der immer gegen seine Frau ist, kann es mir nicht ausreden.«
»Was sagte der?«
»Er sagte, es seien bloß Mäuse.«
»Nun, Mäuse, das ist auch gerade schlimm genug. Ich
kann keine Mäuse leiden. Aber ich sah ja deutlich, wie Du
mit dem Kruse schwatztest und vertraulich thatest, und ich glaube
sogar, Du wolltest ihm einen Schnurrbart anmalen. Das ist doch
schon sehr viel. Und nachher sitzest Du da. Du bist ja noch eine
schmucke Person und hast so 'was. Aber sieh' Dich vor, so viel kann
ich Dir bloß sagen. Wie war es denn eigentlich das erste Mal
mit Dir? Ist es so, daß Du mir's erzählen kannst?«
»Ach, ich kann schon. Aber schrecklich war es. Und weil es
so schrecklich war, d'rum können gnäd'ge Frau auch ganz
ruhig sein, von wegen dem Kruse. Wem es so gegangen ist wie mir,
der hat genug davon und paßt auf. Mitunter träume ich
noch davon, und dann bin ich den andern Tag wie zerschlagen. Solche
grausame Angst ...«
Effi hatte sich aufgerichtet und stützte den Kopf auf ihren
Arm. »Nun erzähle. Wie kann es denn gewesen sein? Es
ist ja mit Euch, das weiß ich noch von Hause her, immer
dieselbe Geschichte ...«
»Ja, zuerst is es wohl immer dasselbe, und ich will mir auch
nicht einbilden, daß es mit mir 'was Besonderes war, ganz
und gar nicht. Aber wie sie's mir dann auf den Kopf zusagten und
ich mit einemmale sagen mußte: 'ja, es ist so,' ja, das
war schrecklich. Die Mutter, na, das ging noch, aber der Vater,
der die Dorfschmiede hatte, der war streng und wütend, und
als er's hörte, da kam er mit einer Stange auf mich los,
die er eben aus dem Feuer genommen hatte, und wollte mich umbringen.
Und ich schrie laut auf und lief auf den Boden und versteckte
mich, und da lag ich und zitterte und kam erst wieder nach unten,
als sie mich riefen und sagten, ich solle nur kommen. Und dann
hatte ich noch eine jüngere Schwester, die wies immer auf
mich hin und sagte 'Pfui'. Und dann, wie das Kind kommen sollte,
ging ich in eine Scheune nebenan, weil ich mir's bei uns nicht
getraute. Da fanden mich fremde Leute halb tot und trugen mich
ins Haus und in mein Bett. Und den dritten Tag nahmen sie mir
das Kind fort, und als ich nachher fragte, wo es sei, da hieß
es, es sei gut aufgehoben. Ach, gnädigste Frau, die heil'ge
Mutter Gottes bewahre Sie vor solchem Elend.«
Effi fuhr auf und sah Roswitha mit großen Augen an. Aber
sie war doch mehr erschrocken als empört. »Was Du nur
sprichst! Ich bin ja doch eine verheiratete Frau. So 'was darfst
Du nicht sagen, das ist ungehörig, das paßt sich nicht.«
»Ach, gnädigste Frau ...«
»Erzähle mir lieber, was aus Dir wurde. Das Kind hatten
sie Dir genommen. Soweit warst Du ...«
»Und dann, nach ein paar Tagen, da kam wer aus Erfurt, der
fuhr bei dem Schulzen vor und fragte, 'ob da nicht eine Amme sei'.
Da sagte der Schulze 'ja'. Gott lohne es ihm, und der fremde Herr
nahm mich gleich mit, und von da an hab' ich bess're Tage gehabt;
selbst bei der Registratorin war es doch immer noch zum Aushalten,
und zuletzt bin ich zu Ihnen gekommen, gnädigste Frau. Und
das war das beste, das allerbeste.« Und als sie das sagte,
trat sie an das Sofa heran und küßte Effi die Hand.
»Roswitha, Du mußt mir nicht immer die Hand küssen,
ich mag das nicht. Und nimm Dich nur in acht mit dem Kruse. Du
bist doch sonst eine so gute und verständige Person ... Mit
einem Ehemann ... das thut nie gut.«
»Ach, gnäd'ge Frau, Gott und seine Heiligen führen
uns wunderbar, und das Unglück, das uns trifft, das hat doch
auch sein Glück. Und wen es nicht bessert, dem is nich' zu
helfen ... Ich kann eigentlich die Mannsleute gut leiden ...«
»Siehst Du, Roswitha, siehst Du.«
»Aber wenn es 'mal wieder so über mich käme, mit
dem Kruse, das is ja nichts, und ich könnte nicht mehr anders,
da lief ich gleich ins Wasser. Es war zu schrecklich. Alles. Und
was nur aus dem armen Wurm geworden is? Ich glaube nicht, daß
es noch lebt; sie haben es umkommen lassen, aber ich bin doch
schuld.« Und sie warf sich vor Annie's Wiege nieder und wiegte
das Kind hin und her und sang in einem fort ihr 'Buhküken
von Halberstadt'.
»Laß,« sagte Effi. »Singe nicht mehr; ich
habe Kopfweh. Aber bringe mir die Zeitungen. Oder hat Gieshübler
vielleicht die Journale geschickt?«
»Das hat er. Und die Modezeitung lag obenauf. Da haben wir
drin geblättert, ich und Johanna, eh' sie 'rüber ging.
Johanna ärgert sich immer, daß sie so 'was nicht haben
kann. Soll ich die Modezeitung bringen?«
»Ja, die bringe und bring' auch die Lampe.«
Roswitha ging, und Effi, als sie allein war, sagte: »Womit
man sich nicht alles hilft? Eine hübsche Dame mit einem Muff
und eine mit einem Halbschleier; Modepuppen. Aber es ist das beste,
mich auf andre Gedanken zu bringen.«
Im Laufe des andern Vormittags kam ein Telegramm von Innstetten,
worin er mitteilte, daß er erst mit dem zweiten Zuge kommen,
also nicht vor Abend in Kessin eintreffen werde. Der Tag verging
in ewiger Unruhe; glücklicherweise kam Gieshübler
im Laufe des Nachmittags und half über eine Stunde weg. Endlich
um sieben Uhr fuhr der Wagen vor, Effi trat hinaus, und man begrüßte
sich. Innstetten war in einer ihm sonst fremden Erregung, und
so kam es, daß er die Verlegenheit nicht sah, die sich in
Effi's Herzlichkeit mischte. Drinnen im Flur brannten die Lampen
und Lichter, und das Theezeug, das Friedrich schon auf einen der
zwischen den Schränken stehenden Tische gestellt hatte, reflektierte
den Lichterglanz.
»Das sieht ja ganz so aus wie damals, als wir hier ankamen.
Weißt Du noch, Effi?«
Sie nickte.
»Nur der Haifisch mit seinem Fichtenzweig verhält sich
heute ruhiger, und auch Rollo spielt den Zurückhaltenden
und legt mir nicht mehr die Pfoten auf die Schulter. Was ist das
mit Dir, Rollo?«
Rollo strich an seinem Herrn vorbei und wedelte.
»Der ist nicht recht zufrieden, entweder mit mir nicht oder
mit andern. Nun, ich will annehmen, mit mir. Jedenfalls laß
uns eintreten.« Und er trat in sein Zimmer und bat Effi,
während er sich aufs Sofa niederließ, neben ihm Platz
zu nehmen. »Es war so hübsch in Berlin, über Erwarten;
aber in all' meiner Freude habe ich mich immer zurückgesehnt.
Und wie gut Du aussiehst! Ein bißchen blaß und auch ein
bißchen verändert, aber es kleidet Dich.«
Effi wurde rot.
»Und nun wirst Du auch noch rot. Aber es ist, wie ich Dir
sage. Du hattest so 'was von einem verwöhnten Kind, mit einemmal
siehst Du aus wie eine Frau.«
»Das hör' ich gern, Geert, aber ich glaube, Du sagst
es nur so.«
»Nein, nein, Du kannst es Dir gut schreiben, wenn es etwas
Gutes ist ...«
»Ich dächte doch.«
»Und nun rate, von wem ich Dir Grüße bringe.«
»Das ist nicht schwer, Geert. Außerdem, wir Frauen,
zu denen ich mich, seitdem Du wieder da bist, ja rechnen darf
(und sie reichte ihm die Hand und lachte), wir Frauen wir raten
leicht. Wir sind nicht so schwerfällig wie ihr.«
»Nun von wem?«
»Nun natürlich von Vetter Briest. Er ist ja der Einzige,
den ich in Berlin kenne, die Tanten abgerechnet, die Du nicht
aufgesucht haben wirst und die viel zu neidisch sind, um mich
grüßen zu lassen. Hast Du nicht auch gefunden, alle
alten Tanten sind neidisch?«
»Ja, Effi, das ist wahr. Und daß Du das sagst, das
ist ganz meine alte Effi wieder. Denn Du mußt wissen, die
alte Effi, die noch aussah, wie ein Kind, nun, die war auch nach
meinem Geschmack. Grad' so wie die jetzige gnäd'ge Frau.«
»Meinst Du? Und wenn Du Dich zwischen beiden entscheiden
solltest ...«
»Das ist eine Doktorfrage, darauf lasse ich mich nicht ein.
Aber da bringt Friedrich den Thee. Wie hat's mich nach dieser Stunde
verlangt! Und hab' es auch ausgesprochen, sogar zu deinem Vetter
Briest, als wir bei Dressel saßen und in Champagner Dein
Wohl tranken ... Die Ohren müssen Dir geklungen haben ...
Und weißt Du, was Dein Vetter dabei sagte?«
»Gewiß etwas Albernes. Darin ist er groß.«
»Das ist der schwärzeste Undank, den ich all' mein Lebtag
erlebt habe. 'Lassen wir Effi leben,' sagte er, 'meine schöne
Cousine ... Wissen Sie, Innstetten, daß ich Sie am liebsten
fordern und totschießen möchte? Denn Effi ist ein Engel,
und Sie haben mich um diesen Engel gebracht'. Und dabei sah er
so ernst und wehmütig aus, daß man's beinah hätte
glauben können.«
»O, diese Stimmung kenn' ich an ihm. Bei der wievielten
wart Ihr?«
»Ich hab' es nicht mehr gegenwärtig, und vielleicht hätte
ich es auch damals nicht mehr sagen können. Aber das glaub'
ich, daß es ihm ganz ernst war. Und vielleicht wäre
es auch das Richtige gewesen. Glaubst Du nicht, daß Du mit
ihm hättest leben können?«
»Leben können? Das ist wenig, Geert. Aber beinah möchte
ich sagen, ich hätte auch nicht einmal mit ihm leben können.«
»Warum nicht? Er ist wirklich ein liebenswürdiger und
netter Mensch und auch ganz gescheidt.«
»Ja, das ist er ...«
»Aber ...«
»Aber er ist dalbrig. Und das ist keine Eigenschaft, die
wir Frauen lieben, auch nicht einmal dann, wenn wir noch halbe
Kinder sind, wohin Du mich immer gerechnet hast und vielleicht,
trotz meiner Fortschritte, auch jetzt noch rechnest. Das Dalbrige,
das ist nicht unsre Sache. Männer müssen Männer
sein.«
»Gut, daß Du das sagst. Alle Teufel, da muß man
sich ja zusammennehmen. Und ich kann von Glück sagen, daß
ich von so 'was, das wie Zusammennehmen aussieht, oder wenigstens
ein Zusammennehmen in Zukunft fordert, so gut wie direkt herkomme
... Sag, wie denkst Du Dir ein Ministerium?«
»Ein Ministerium? Nun, das kann zweierlei sein. Es können
Menschen sein, kluge, vornehme Herren, die den Staat regieren,
und es kann auch bloß ein Haus sein, ein Palazzo, ein Palazzo
Strozzi oder Pitti oder, wenn die nicht passen, irgend ein andrer.
Du siehst, ich habe meine italienische Reise nicht umsonst gemacht.«
»Und könntest Du Dich entschließen, in solchem
Palazzo zu wohnen? Ich meine in solchem Ministerium?«
»Um Gotteswillen, Geert, sie haben Dich doch nicht zum Minister
gemacht? Gieshübler sagte so 'was. Und der Fürst kann
alles. Gott, der hat es am Ende durchgesetzt, und ich bin erst
achtzehn.«
Innstetten lachte. »Nein, Effi, nicht Minister, so weit sind
wir noch nicht. Aber vielleicht kommen noch allerhand Gaben in
mir heraus, und dann ist es nicht unmöglich.«
»Also jetzt noch nicht, noch nicht Minister?«
»Nein. Und wir werden, die Wahrheit zu sagen, auch nicht
einmal in einem Ministerium wohnen, aber ich werde täglich
ins Ministerium gehen, wie ich jetzt in unser Landratsamt gehe,
und werde dem Minister Vortrag halten und mit ihm reisen, wenn
er die Provinzialbehörden inspiziert. Und Du wirst eine Ministerialrätin
sein und in Berlin leben, und in einem halben Jahre wirst Du kaum
noch wissen, daß Du hier in Kessin gewesen bist und nichts
gehabt hast, als Gieshübler und die Dünen und die Plantage.«
Effi sagte kein Wort, und nur ihre Augen wurden immer größer;
um ihre Mundwinkel war ein nervöses Zucken, und ihr ganzer
zarter Körper zitterte. Mit einemmale aber glitt sie von
ihrem Sitze vor Innstetten nieder, umklammerte seine Knie und sagte
in einem Tone, wie wenn sie betete: »Gott sei Dank!«
Innstetten verfärbte sich. Was war das? Etwas, was seit Wochen
flüchtig, aber doch immer sich erneuernd über ihn kam,
war wieder da und sprach so deutlich aus seinem Auge, daß
Effi davor erschrak. Sie hatte sich durch ein schönes Gefühl,
das nicht viel 'was andres als ein Bekenntnis ihrer Schuld war,
hinreißen lassen und dabei mehr gesagt, als sie sagen durfte.
Sie mußte das wieder ausgleichen, mußte 'was finden,
irgend einen Ausweg, es koste, was es wolle.
»Steh' auf, Effi. Was hast Du?«
Effi erhob sich rasch. Aber sie nahm ihren Platz auf dem Sofa
nicht wieder ein, sondern schob einen Stuhl mit hoher Lehne heran,
augenscheinlich, weil sie nicht Kraft genug fühlte, sich ohne
Stütze zu halten.
»Was hast Du?« wiederholte Innstetten. »Ich dachte,
Du hättest hier glückliche Tage verlebt. Und nun rufst
Du 'Gott sei Dank', als ob Dir hier alles nur ein Schrecknis gewesen
wäre. War ich Dir ein Schrecknis? Oder war es 'was andres?
Sprich?«
»Daß Du noch fragen kannst, Geert,« sagte sie,
während sie mit einer äußersten Anstrengung das
Zittern ihrer Stimme zu bezwingen suchte. »Glückliche
Tage! Ja, gewiß, glückliche Tage, aber doch auch andre.
Nie bin ich die Angst hier ganz los geworden, nie. Noch keine vierzehn
Tage, daß es mir wieder über die Schulter sah, dasselbe
Gesicht, derselbe fahle Teint. Und diese letzten Nächte,
wo Du fort warst, war es auch wieder da, nicht das Gesicht, aber
es schlurrte wieder, und Rollo schlug wieder an, und Roswitha,
die's auch gehört, kam an mein Bett und setzte sich zu mir,
und erst, als es schon dämmerte, schliefen wir wieder ein.
Es ist ein Spukhaus, und ich hab' es auch glauben sollen, das mit
dem Spuk, - denn Du bist ein Erzieher. Ja, Geert, das bist Du. Aber
laß es sein, wie's will, so viel weiß ich, ich habe
mich ein ganzes Jahr lang und länger in diesem Hause gefürchtet,
und wenn ich von hier fortkomme, so wird es, denke ich, von mir
abfallen, und ich werde wieder frei sein.«
Innstetten hatte kein Auge von ihr gelassen und war jedem Worte
gefolgt. Was sollte das heißen: »Du bist ein Erzieher?«
und dann das andre, was vorausging: »und ich hab' es auch
glauben sollen, das mit dem Spuk.« Was war das alles? Wo
kam das her? Und er fühlte seinen leisen Argwohn sich wieder
regen und fester einnisten. Aber er hatte lange genug gelebt,
um zu wissen, daß alle Zeichen trügen und daß
wir in unsrer Eifersucht, trotz ihrer hundert Augen, oft noch
mehr in die Irre gehen, als in der Blindheit unsres Vertrauens.
Es konnte ja so sein, wie sie sagte. Und wenn es so war, warum
sollte sie nicht ausrufen: »Gott sei Dank!«
Und so, rasch alle Möglichkeiten ins Auge fassend, wurde
er seines Argwohns wieder Herr und reichte ihr die Hand über
den Tisch hin: »Verzeih' mir, Effi, aber ich war so sehr überrascht
von dem allen. Freilich wohl meine Schuld. Ich bin immer zu sehr
mit mir beschäftigt gewesen. Wir Männer sind alle Egoisten.
Aber das soll nun anders werden. Ein Gutes hat Berlin gewiß:
Spukhäuser giebt es da nicht. Wo sollen die auch herkommen?
Und nun laß uns hinüber gehen, daß ich Annie sehe;
Roswitha verklagt mich sonst als einen unzärtlichen Vater.«
Effi war unter diesen Worten allmählich ruhiger geworden
und das Gefühl, aus einer selbstgeschaffenen Gefahr sich
glücklich befreit zu haben, gab ihr ihre Spannkraft und gute
Haltung wieder zurück.
