Gleich nach sieben ging man zu Tisch, und alles freute sich, daß
der Weihnachtsbaum, eine mit zahllosen Silberkugeln bedeckte Tanne,
noch einmal angesteckt wurde. Crampas, der das Ring'sche Haus noch
nicht kannte, war helle Bewunderung. Der Damast, die Weinkühler,
das reiche Silbergeschirr, alles wirkte herrschaftlich, weit über
oberförsterliche Durchschnittsverhältnisse hinaus, was
darin seinen Grund hatte, daß Ring's Frau, so scheu und verlegen
sie war, aus einem reichen Danziger Kornhändlerhause stammte.
Von daher rührten auch die meisten der rings umher hängenden
Bilder: der Kornhändler und seine Frau, der Marienburger
Remter und eine gute Kopie nach dem berühmten Memling'schen
Altarbilde in der Danziger Marienkirche. Kloster Oliva war zweimal
da, einmal in Öl und einmal in Kork geschnitzt. Außerdem
befand sich über dem Büfett ein sehr nachgedunkeltes
Porträt des alten Nettelbeck, das noch aus dem bescheidenen
Mobiliar des erst vor anderthalb Jahren verstorbenen Ring'schen
Amtsvorgängers herrührte. Niemand hatte damals, bei der
gewöhnlich stattfindenden Auktion, das Bild des Alten haben
wollen, bis Innstetten, der sich über diese Mißachtung
ärgerte, darauf geboten hatte. Da hatte sich denn auch Ring
patriotisch besonnen, und der alte Kolbergverteidiger war der
Oberförsterei verblieben.
Das Nettelbeck-Bild ließ ziemlich viel zu wünschen übrig;
sonst aber verriet alles, wie schon angedeutet, eine beinahe an
Glanz streifende Wohlhabenheit, und dem entsprach denn auch das
Mahl, das aufgetragen wurde. Jeder hatte mehr oder weniger seine
Freude daran, mit Ausnahme Sidoniens. Diese saß zwischen
Innstetten und Lindequist und sagte, als sie Cora's ansichtig wurde:
»Da ist ja wieder dies unausstehliche Balg, diese Cora. Sehen
Sie nur, Innstetten, wie sie die kleinen Weingläser präsentiert,
ein wahres Kunststück, sie könnte jeden Augenblick Kellnerin
werden. Ganz unerträglich. Und dazu die Blicke von Ihrem
Freund Crampas! Das ist so die rechte Saat! Ich frage Sie, was
soll dabei herauskommen?«
Innstetten, der ihr eigentlich zustimmte, fand trotzdem den Ton,
in dem das alles gesagt wurde, so verletzend herbe, daß er
spöttisch bemerkte: »Ja, meine Gnädigste, was dabei
herauskommen soll? Ich weiß es auch nicht« -
worauf sich Sidonie von ihm ab- und ihrem Nachbar zur Linken
zuwandte: »Sagen Sie, Pastor, ist diese vierzehnjährige Kokette
schon im Unterricht bei Ihnen?«
»Ja, mein gnädigstes Fräulein.«
»Dann müssen Sie mir die Bemerkung verzeihen, daß
Sie sie nicht in die richtige Schule genommen haben. Ich weiß
wohl, es hält das heutzutage sehr schwer, aber ich weiß
auch, daß die, denen die Fürsorge für junge Seelen
obliegt, es vielfach an dem rechten Ernste fehlen lassen. Es bleibt
dabei, die Hauptschuld tragen die Eltern und Erzieher.«
Lindequist, denselben Ton anschlagend wie Innstetten, antwortete,
daß das alles sehr richtig, der Geist der Zeit aber zu mächtig
sei.
»Geist der Zeit!« sagte Sidonie. »Kommen Sie mir
nicht damit. Das kann ich nicht hören, das ist der Ausdruck
höchster Schwäche, Bankrutterklärung. Ich kenne
das; nie scharf zufassen wollen, immer dem Unbequemen aus dem
Wege gehen. Denn Pflicht ist unbequem. Und so wird nur allzu leicht
vergessen, daß das uns anvertraute Gut auch 'mal von uns
zurückgefordert wird. Eingreifen, lieber Pastor, Zucht. Das
Fleisch ist schwach, gewiß, aber ...«
In diesem Augenblicke kam ein englisches Roastbeef, von dem Sidonie
ziemlich ausgiebig nahm, ohne Lindequist's Lächeln dabei zu
bemerken. Und weil sie's nicht bemerkte, so durfte es auch nicht
Wunder nehmen, daß sie mit vieler Unbefangenheit fortfuhr:
»Es kann übrigens alles, was Sie hier sehen, nicht wohl
anders sein; alles ist schief und verfahren von Anfang an. Ring,
Ring - wenn ich nicht irre, hat es drüben in Schweden oder
da herum 'mal einen Sagenkönig dieses Namens gegeben. Nun
sehen Sie, benimmt er sich nicht, als ob er von dem abstamme,
und seine Mutter, die ich noch gekannt habe, war eine Plättfrau
in Cöslin.«
»Ich kann darin nichts schlimmes finden.«
»Schlimmes finden? Ich auch nicht. Und jedenfalls giebt es
schlimmeres. Aber so viel muß ich doch von Ihnen, als einem
geweihten Diener der Kirche, gewärtigen dürfen, daß
Sie die gesellschaftlichen Ordnungen gelten lassen. Ein Oberförster
ist ein bißchen mehr als ein Förster, und ein Förster
hat nicht solche Weinkühler und solch' Silberzeug; das alles
ist ungehörig und zieht dann solche Kinder groß, wie
dies Fräulein Cora.«
Sidonie, jedesmal bereit, irgend 'was Schreckliches zu prophezeien,
wenn sie, vom Geist überkommen, die Schalen ihres Zornes ausschüttete,
würde sich auch heute bis zum Kassandrablick in die Zukunft
gesteigert haben, wenn nicht in eben diesem Augenblicke die dampfende
Punschbowle - womit die Weihnachtsréunions bei Ring immer abschlossen
- auf der Tafel erschienen wäre, dazu Krausgebackenes, das,
geschickt über einander getürmt, noch weit über die
vor einigen Stunden aufgetragene Kaffeekuchenpyramide hinauswuchs.
Und nun trat auch Ring selbst, der sich bis dahin etwas zurückgehalten
hatte, mit einer gewissen strahlenden Feierlichkeit in Aktion
und begann die vor ihm stehenden Gläser, große geschliffene
Römer, in virtuosem Bogensturz zu füllen, ein Einschenkekunststück,
das die stets schlagfertige Frau von Padden, die heute leider
fehlte, 'mal als 'Ring'sche Füllung en cascade' bezeichnet
hatte. Rotgolden wölbte sich dabei der Strahl, und kein Tropfen
durfte verloren gehen. So war es auch heute wieder. Zuletzt aber,
als jeder, was ihm zukam, in Händen hielt - auch Cora, die
sich mittlerweile mit ihrem rotblonden Wellenhaar auf »Onkel
Crampas'« Schoß gesetzt hatte - erhob sich der alte
Papenhagner, um, wie herkömmlich bei Festlichkeiten derart,
einen Toast auf seinen lieben Oberförster auszubringen. Es
gäbe viele Ringe, so etwa begann er, Jahresringe, Gardinenringe,
Trauringe, und was nun gar - denn auch davon dürfe sich am
Ende wohl sprechen lassen - die Verlobungsringe angehe, so sei
glücklicherweise die Gewähr gegeben, daß einer
davon in kürzester Frist in diesem Hause sichtbar werden
und den Ringfinger (und zwar hier in einem doppelten Sinne
den Ringfinger) eines kleinen hübschen Pätschelchens
zieren werde...
»Unerhört,« raunte Sidonie dem Pastor zu.
»Ja, meine Freunde,« fuhr Güldenklee mit gehobener
Stimme fort, »viele Ringe giebt es, und es giebt sogar eine
Geschichte, die wir alle kennen, die die Geschichte von den 'drei
Ringen' heißt, eine Judengeschichte, die, wie der ganze
liberale Krimskrams, nichts wie Verwirrung und Unheil gestiftet
hat und noch stiftet. Gott bessere es. Und nun lassen Sie mich
schließen, um Ihre Geduld und Nachsicht nicht über
Gebühr in Anspruch zu nehmen. Ich bin nicht für
diese drei Ringe, meine Lieben, ich bin vielmehr für einen
Ring, für einen Ring, der so recht ein Ring ist
wie er sein soll, ein Ring, der alles Gute, was wir in unsrem
altpommerschen Kessiner Kreise haben, alles, was noch mit Gott
für König und Vaterland einsteht - und es sind ihrer
noch einige (lauter Jubel) -, an diesem seinem gastlichen Tisch
vereinigt sieht. Für diesen Ring bin ich. Er lebe
hoch!«
Alles stimmte ein und umdrängte Ring, der, so lange das dauerte,
das Amt des 'Einschenkens en cascade' an den ihm gegenübersitzenden
Crampas abtreten mußte; der Hauslehrer aber stürzte
von seinem Platz am unteren Ende der Tafel an das Klavier und
schlug die ersten Takte des Preußenliedes an, worauf alles
stehend und feierlich einfiel: »Ich bin ein Preuße
... will ein Preuße sein.«
»Es ist doch etwas Schönes,« sagte gleich nach
der ersten Strophe der alte Borcke zu Innstetten, »so 'was
hat man in anderen Ländern nicht.«
»Nein,« antwortete Innstetten, der von solchem Patriotismus
nicht viel hielt, »in anderen Ländern hat man 'was anderes.«
Man sang alle Strophen durch, dann hieß es, die Wagen seien
vorgefahren, und gleich danach erhob sich alles, um die Pferde
nicht warten zu lassen. Denn diese Rücksicht »auf die
Pferde« ging auch im Kreise Kessin allem anderen vor. Im
Hausflur standen zwei hübsche Mägde, Ring hielt auf
dergleichen, um den Herrschaften beim Anziehen ihrer Pelze behülflich
zu sein. Alles war heiter angeregt, einige mehr als das, und das
Einsteigen in die verschiedenen Gefährte schien sich schnell
und ohne Störung vollziehen zu sollen, als es mit einemmal
hieß, der Gieshübler'sche Schlitten sei nicht da. Gieshübler
selbst war viel zu artig, um gleich Unruhe zu zeigen oder gar
Lärm zu machen; endlich aber, weil doch wer das Wort nehmen
mußte, fragte Crampas, »was es denn eigentlich sei?«
»Mirambo kann nicht fahren,« sagte der Hofknecht; »das
linke Pferd hat ihn beim Anspannen vor das Schienbein geschlagen.
Er liegt im Stall und schreit.«
Nun wurde natürlich nach Dr. Hannemann gerufen, der denn
auch hinausging und nach fünf Minuten mit echter Chirurgenruhe
versicherte: »Ja, Mirambo müsse zurückbleiben; es sei
vorläufig in der Sache nichts zu machen als still liegen und
kühlen. Übrigens von Bedenklichem keine Rede.« Das war
nun einigermaßen ein Trost, aber schaffte doch die Verlegenheit,
wie der Gieshübler'sche Schlitten zurückzufahren sei,
nicht aus der Welt, bis Innstetten erklärte, daß er
für Mirambo einzutreten und das Zwiegestirn von Doktor und
Apotheker persönlich glücklich heimzusteuern gedenke.
Lachend und unter ziemlich angeheiterten Scherzen gegen den verbindlichsten
aller Landräte, der sich, um hülfreich zu sein, sogar von
seiner jungen Frau trennen wolle, wurde dem Vorschlage zugestimmt,
und Innstetten, mit Gieshübler und dem Doktor im Fond, nahm
jetzt wieder die Tête. Crampas und Lindequist folgten unmittelbar.
Und als gleich danach auch Kruse mit dem landrätlichen Schlitten
vorfuhr, trat Sidonie lächelnd an Effi heran und bat diese,
da ja nun ein Platz frei sei, mit ihr fahren zu dürfen. »In
unserer Kutsche ist es immer so stickig; mein Vater liebt das.
Und außerdem, ich möchte so gerne mit Ihnen plaudern.
Aber nur bis Quappendorf. Wo der Morgnitzer Weg abzweigt, steig'
ich aus und muß dann wieder in unsern unbequemen Kasten.
Und Papa raucht auch noch.«
Effi war wenig erfreut über diese Begleitung und hätte
die Fahrt lieber allein gemacht; aber ihr blieb keine Wahl, und
so stieg denn das Fräulein ein, und kaum daß beide
Damen ihre Plätze genommen hatten, so gab Kruse den Pferden
auch schon einen Peitschenknips und von der oberförsterlichen
Rampe her, von der man einen prächtigen Ausblick auf das
Meer hatte, ging es, die ziemlich steile Düne hinunter, auf
den Strandweg zu, der, eine Meile lang, in beinahe gerader Linie
bis an das Kessiner Strandhotel, und von dort aus, rechts einbiegend,
durch die Plantage hin, in die Stadt führte. Der Schneefall
hatte schon seit ein paar Stunden aufgehört,
die Luft war frisch, und auf das weite dunkelnde Meer fiel der
matte Schein der Mondsichel. Kruse fuhr hart am Wasser hin, mitunter
den Schaum der Brandung durchschneidend, und Effi, die etwas fröstelte,
wickelte sich fester in ihren Mantel und schwieg noch immer und
mit Absicht. Sie wußte recht gut, daß das mit der
»stickigen Kutsche« bloß ein Vorwand gewesen und
daß sich Sidonie nur zu ihr gesetzt hatte, um ihr etwas
Unangenehmes zu sagen. Und das kam immer noch früh genug.
Zudem war sie wirklich müde, vielleicht von dem Spaziergange
im Walde, vielleicht auch von dem oberförsterlichen Punsch,
dem sie, auf Zureden der neben ihr sitzenden Frau v. Flemming,
tapfer zugesprochen hatte. Sie that denn auch, als ob sie schliefe,
schloß die Augen und neigte den Kopf immer mehr nach links.
»Sie sollten sich nicht so sehr nach links beugen, meine
gnädigste Frau. Fährt der Schlitten auf einen Stein,
so fliegen Sie hinaus. Ihr Schlitten hat ohnehin kein Schutzleder
und, wie ich sehe, auch nicht einmal die Haken dazu.«
»Ich kann die Schutzleder nicht leiden; sie haben so 'was
Prosaisches. Und dann, wenn ich hinausflöge, mir wär'
es recht, am liebsten gleich in die Brandung. Freilich ein etwas
kaltes Bad, aber was thut's ... Übrigens hören Sie nichts?«
»Nein.«
»Hören Sie nicht etwas wie Musik?«
»Orgel?«
»Nein, nicht Orgel. Da würd' ich denken, es sei das Meer.
Aber es ist etwas anderes, ein unendlich feiner Ton, fast wie
menschliche Stimme ...«
»Das sind Sinnestäuschungen,« sagte Sidonie, die
jetzt den richtigen Einsetzemoment gekommen glaubte. »Sie
sind nervenkrank. Sie hören Stimmen. Gebe Gott, daß
Sie auch die richtige Stimme hören.«
»Ich höre ... nun, gewiß, es ist Thorheit, ich
weiß, sonst würd' ich mir einbilden, ich hätte
die Meerfrauen singen hören ... Aber, ich bitte Sie, was
ist das? Es blitzt ja bis hoch in den Himmel hinauf. Das muß
ein Nordlicht sein.«
»Ja,« sagte Sidonie. »Gnädigste Frau thun ja,
als ob es ein Weltwunder wäre. Das ist es nicht. Und wenn
es dergleichen wäre, wir haben uns vor Naturkultus zu hüten.
Übrigens ein wahres Glück, daß wir außer
Gefahr sind, unsern Freund Oberförster, diesen eitelsten
aller Sterblichen, über dies Nordlicht sprechen zu hören.
Ich wette, daß er sich einbilden würde, das thue ihm
der Himmel zu Gefallen, um sein Fest noch festlicher zu machen.
Er ist ein Narr. Güldenklee konnte Besseres thun, als ihn
feiern. Und dabei spielt er sich auf den Kirchlichen aus und hat
auch neulich eine Altardecke geschenkt. Vielleicht, daß
Cora daran mitgestickt hat. Diese Unechten sind schuld an allem,
denn ihre Weltlichkeit liegt immer obenauf und wird Denen mit
angerechnet, die's ernst mit dem Heil ihrer Seele meinen.«
»Es ist so schwer, ins Herz zu sehen!«
»Ja. Das ist es. Aber bei manchem ist es auch ganz leicht.«
Und dabei sah sie die junge Frau mit beinahe ungezogener Eindringlichkeit
an.
Effi schwieg und wandte sich ungeduldig zur Seite.
»Bei manchem, sag' ich, ist es ganz leicht,« wiederholte
Sidonie, die ihren Zweck erreicht hatte und deshalb ruhig lächelnd
fortfuhr: »und zu diesen leichten Rätseln gehört
unser Oberförster. Wer seine Kinder so erzieht, den beklag'
ich, aber das eine Gute hat es, es liegt bei ihm alles
klar da. Und wie bei ihm selbst, so bei den Töchtern. Cora
geht nach Amerika und wird Millionärin oder Methodistenpredigerin;
in jedem Fall ist sie verloren. Ich habe noch keine Vierzehnjährige
gesehen ...«
In diesem Augenblicke hielt der Schlitten, und als sich beide Damen
umsahen, um in Erfahrung zu bringen, was es denn eigentlich sei,
bemerkten sie, daß rechts von ihnen, in etwa dreißig
Schritt Abstand, auch die beiden anderen Schlitten hielten - am
weitesten nach rechts der von Innstetten geführte, näher
heran der Crampas'sche.
»Was ist?« fragte Effi.
Kruse wandte sich halb herum und sagte: »Der Schloon, gnäd'ge
Frau.«
»Der Schloon? Was ist das? Ich sehe nichts.«
Kruse wiegte den Kopf hin und her, wie wenn er ausdrücken
wollte, daß die Frage leichter gestellt als beantwortet
sei. Worin er auch recht hatte. Denn was der Schloon sei, das war nicht
so mit drei Worten zu sagen. Kruse fand aber in seiner Verlegenheit
alsbald Hülfe bei dem gnädigen Fräulein, das hier mit
allem Bescheid wußte und natürlich auch mit dem Schloon.
»Ja, meine gnädigste Frau,« sagte Sidonie, »da
steht es schlimm. Für mich hat es nicht viel auf sich, ich
komme bequem durch; denn wenn erst die Wagen heran sind, die haben
hohe Räder, und unsere Pferde sind außerdem daran gewöhnt.
Aber mit solchem Schlitten ist es 'was anderes; die versinken im
Schloon, und Sie werden wohl oder übel einen Umweg machen
müssen.«
»Versinken! Ich bitte Sie, mein gnädigstes Fräulein,
ich sehe noch immer nicht klar. Ist denn der Schloon ein Abgrund
oder irgend 'was, drin man mit Mann und Maus zu Grunde gehen muß?
Ich kann mir so 'was hier zu Lande gar nicht denken.«
»Und doch ist es so 'was, nur freilich im kleinen; dieser
Schloon ist eigentlich bloß ein kümmerliches Rinnsal,
das hier rechts vom Gothener See herunter kommt und sich durch
die Dünen schleicht. Und im Sommer trocknet es mitunter ganz
aus, und Sie fahren dann ruhig drüber hin und wissen es nicht
einmal.«
»Und im Winter?«
»Ja, im Winter, da ist es 'was anderes; nicht immer, aber
doch oft. Da wird es dann ein Soog.«
»Mein Gott, was sind das nur alles für Namen und Wörter!«
»... Da wird es ein Soog, und am stärksten immer dann,
wenn der Wind nach dem Lande hin steht. Dann drückt der Wind
das Meerwasser in das kleine Rinnsal hinein, aber nicht so, daß
man es sehen kann. Und das ist das schlimmste von der Sache, darin
steckt die eigentliche Gefahr. Alles geht nämlich unterirdisch
vor sich, und der ganze Strandsand ist dann bis tief hinunter
mit Wasser durchsetzt und gefüllt. Und wenn man dann über
solche Sandstelle weg will, die keine mehr ist, dann sinkt man
ein, als ob es ein Sumpf oder ein Moor wäre.«
»Das kenn ich,« sagte Effi lebhaft. »Das ist wie
in unsrem Luch,« und inmitten all' ihrer Ängstlichkeit
wurde ihr mit einemmale ganz wehmütig-freudig zu Sinn.
Während das Gespräch noch so ging und sich fortsetzte,
war Crampas aus seinem Schlitten ausgestiegen und auf den am äußersten
Flügel haltenden Gieshübler'schen zugeschritten, um hier
mit Innstetten zu verabreden, was nun wohl eigentlich zu thun sei.
Knut, so vermeldete er, wolle die Durchfahrt riskieren, aber Knut
sei dumm und verstehe nichts von der Sache; nur solche, die hier
zu Hause seien, müßten die Entscheidung treffen. Innstetten
- sehr zu Crampas' Überraschung - war auch fürs »Riskieren«,
es müsse durchaus noch 'mal versucht werden ... er wisse schon,
die Geschichte wiederhole sich jedesmal: die Leute hier hätten
einen Aberglauben und vorweg eine Furcht, während es doch
eigentlich wenig zu bedeuten habe. Nicht Knut, der wisse nicht
Bescheid, wohl aber Kruse solle noch einmal einen Anlauf nehmen
und Crampas derweilen bei den Damen einsteigen (ein kleiner Rücksitz
sei ja noch da), um bei der Hand zu sein, wenn der Schlitten umkippe.
Das sei doch schließlich das schlimmste, was geschehen könne.
Mit dieser Innstetten'schen Botschaft erschien jetzt Crampas bei
den beiden Damen und nahm, als er lachend seinen Auftrag ausgeführt
hatte, ganz nach empfangener Ordre den kleinen Sitzplatz ein,
der eigentlich nichts als eine mit Tuch überzogene Leiste
war, und rief Kruse zu: »Nun, vorwärts, Kruse.«
Dieser hatte denn auch die Pferde bereits um hundert Schritte
zurück gezoppt und hoffte, scharf anfahrend, den Schlitten
glücklich durchbringen zu können; im selben Augenblick
aber, wo die Pferde den Schloon auch nur berührten, sanken
sie bis über die Knöchel in den Sand ein, so daß
sie nur mit Mühe nach rückwärts wieder heraus konnten.
»Es geht nicht,« sagte Crampas, und Kruse nickte.
Während sich dies abspielte, waren endlich auch die Kutschen
heran gekommen, die Grasenabb'sche vorauf, und als Sidonie, nach
kurzem Dank gegen Effi, sich verabschiedet und dem seine türkische
Pfeife rauchenden Vater gegenüber ihren Rückplatz eingenommen
hatte, ging es mit dem Wagen ohne weiteres auf den Schloon zu;
die Pferde sanken tief ein, aber die Räder ließen alle
Gefahr leicht überwinden, und ehe eine halbe Minute vorüber
war, trabten auch schon die Grasenabb's drüben weiter. Die
andern Kutschen folgten. Effi sah ihnen nicht ohne Neid nach.
Indessen nicht lange, denn auch für die Schlittenfahrer war
in der zwischenliegenden Zeit Rat geschafft worden, und zwar einfach
dadurch, daß sich Innstetten entschlossen hatte, statt aller
weiteren Forcierung, das friedlichere Mittel eines Umwegs zu wählen.
Also genau das, was Sidonie gleich anfangs in Sicht gestellt hatte.
Vom rechten Flügel her klang des Landrats bestimmte Weisung
herüber, vorläufig diesseits zu bleiben und ihm durch
die Dünen hin bis an eine weiter hinauf gelegene Bohlenbrücke
zu folgen. Als beide Kutscher, Knut und Kruse, so verständigt
waren, trat der Major, der, um Sidonie zu helfen, gleichzeitig
mit dieser ausgestiegen war, wieder an Effi heran und sagte: »Ich
kann Sie nicht allein lassen, gnäd'ge Frau.«
Effi war einen Augenblick unschlüssig, rückte dann aber
rasch von der einen Seite nach der anderen hinüber, und Crampas
nahm links neben ihr Platz.
All' dies hätte vielleicht mißdeutet werden können,
Crampas selbst aber war zu sehr Frauenkenner, um es sich bloß
in Eitelkeit zurechtzulegen. Er sah deutlich, daß Effi nur
that, was, nach Lage der Sache, das einzig Richtige war. Es war unmöglich
für sie, sich seine Gegenwart zu verbitten. Und so ging es
denn im Fluge den beiden anderen Schlitten nach, immer dicht an
dem Wasserlaufe hin, an dessen anderem Ufer dunkle Waldmassen aufragten.
Effi sah hinüber und nahm an, daß schließlich
an dem landeinwärts gelegenen Außenrand des Waldes
hin die Weiterfahrt gehen würde, genau also den Weg
entlang, auf dem man in früher Nachmittagsstunde gekommen
war. Innstetten aber hatte sich inzwischen einen andern Plan
gemacht, und im selben Augenblicke, wo sein Schlitten die Bohlenbrücke
passierte, bog er, statt den Außenweg zu wählen, in
einen schmaleren Weg ein, der mitten durch die dichte Waldmasse
hindurch führte. Effi schrak zusammen. Bis dahin waren Luft
und Licht um sie her gewesen, aber jetzt war es damit vorbei,
und die dunklen Kronen wölbten sich über ihr. Ein Zittern
überkam sie, und sie schob die Finger fest in einander, um
sich einen Halt zu geben. Gedanken und Bilder jagten sich und
eines dieser Bilder war das Mütterchen in dem Gedichte, das
die »Gottesmauer« hieß, und wie das Mütterchen,
so betete auch sie jetzt, daß Gott eine Mauer um sie her
bauen möge. Zwei, drei Male kam es auch über ihre Lippen,
aber mit einemmal fühlte sie, daß es tote Worte waren.
Sie fürchtete sich und war doch zugleich wie in einem Zauberbann
und wollte auch nicht heraus.
»Effi,« klang es jetzt leise an ihr Ohr, und sie hörte,
daß seine Stimme zitterte. Dann nahm er ihre Hand und löste
die Finger, die sie noch immer geschlossen hielt, und überdeckte
sie mit heißen Küssen. Es war ihr, als wandle sie eine
Ohnmacht an.
Als sie die Augen wieder öffnete, war man aus dem Walde heraus,
und in geringer Entfernung vor sich hörte sie das Geläut
der vorauf eilenden Schlitten. Immer vernehmlicher klang es, und
als man, dicht vor Utpatel's Mühle, von den Dünen her
in die Stadt einbog, lagen rechts die kleinen Häuser mit
ihren Schneedächern neben ihnen.
Effi blickte sich um, und im nächsten Augenblicke hielt der
Schlitten vor dem landrätlichen Hause.
