Es war spät, als man aufbrach. Schon bald nach Zehn hatte
Effi zu Gieshübler gesagt: »es sei nun wohl Zeit; Fräulein
Trippelli, die den Zug nicht versäumen dürfe, müsse
ja schon um sechs von Kessin aufbrechen,« die danebenstehende Trippelli
aber, die diese Worte gehört, hatte mit der ihr eigenen ungenierten
Beredsamkeit gegen solche zarte Rücksichtnahme protestiert.
»Ach, meine gnädigste Frau, Sie glauben, daß unsereins
einen regelmäßigen Schlaf braucht, das trifft aber
nicht zu; was wir regelmäßig brauchen, heißt
Beifall und hohe Preise. Ja, lachen Sie nur. Außerdem, (so
'was lernt man,) kann ich auch im Coupé schlafen, in jeder
Situation und sogar auf der linken Seite und brauche nicht einmal
das Kleid aufzumachen. Freilich bin ich auch nie eingepreßt;
Brust und Lunge müssen immer frei sein und vor allem das
Herz. Ja, meine gnädigste Frau, das ist die Hauptsache. Und
dann das Kapitel Schlaf überhaupt, - die Menge thut es nicht,
was entscheidet, ist die Qualität; ein guter Nicker von fünf
Minuten ist besser als fünf Stunden unruhige 'Rumdreherei,
'mal links, 'mal rechts. Übrigens schläft man in Rußland
wundervoll, trotz des starken Thees. Es muß die Luft machen
oder das späte Diner oder weil man so verwöhnt wird.
Sorgen giebt es in Rußland nicht; darin - im Geldpunkt sind
beide gleich - ist Rußland noch besser als Amerika.«
Nach dieser Erklärung der Trippelli hatte Effi von allen
Mahnungen zum Aufbruch Abstand genommen, und so war Mitternacht
herangekommen. Man trennte sich heiter und herzlich und mit einer
gewissen Vertraulichkeit.
Der Weg von der Mohrenapotheke bis zur
landrätlichen Wohnung war ziemlich weit; er kürzte sich
aber dadurch, daß Pastor Lindequist bat, Innstetten und
Frau eine Strecke begleiten zu dürfen; ein Spaziergang unterm
Sternenhimmel sei das beste, um über Gieshübler's Rheinwein
hinwegzukommen. Unterwegs wurde man natürlich nicht müde,
die verschiedensten Trippelliana heranzuziehen; Effi begann mit
dem, was ihr in Erinnerung geblieben, und gleich nach ihr kam
der Pastor an die Reihe. Dieser, ein Ironikus, hatte die Trippelli,
wie nach vielem sehr Weltlichen, so schließlich auch nach
ihrer kirchlichen Richtung gefragt und dabei von ihr in Erfahrung
gebracht, daß sie nur eine Richtung kenne, die orthodoxe.
Ihr Vater sei freilich ein Rationalist gewesen, fast schon ein
Freigeist, weshalb er auch den Chinesen am liebsten auf dem Gemeindekirchhof
gehabt hätte; sie ihrerseits sei aber ganz entgegengesetzter
Ansicht, trotzdem sie persönlich des großen Vorzugs
genieße, gar nichts zu glauben. Aber sie sei sich in ihrem
entschiedenen Nichtglauben doch auch jeden Augenblick bewußt,
daß das ein Spezialluxus sei, den man sich nur als Privatperson
gestatten könne. Staatlich höre der Spaß auf,
und wenn ihr das Kultusministerium oder gar ein Konsistorialregiment
unterstünde, so würde sie mit unnachsichtiger Strenge
vorgehen. »Ich fühle so 'was von einem Torquemada in
mir.«
Innstetten war sehr erheitert und erzählte seinerseits,
daß er etwas so Heikles, wie das Dogmatische, geflissentlich
vermieden, aber dafür das Moralische desto mehr in den Vordergrund
gestellt habe. Hauptthema sei das Verführerische gewesen,
das beständige Gefährdetsein, das in allem öffentlichen
Auftreten liege, worauf die Trippelli leichthin und nur mit Betonung
der zweiten Satzhälfte geantwortet habe: »Ja, beständig
gefährdet; am meisten die Stimme.«
Unter solchem Geplauder war, ehe man sich trennte, der Trippelli-Abend
noch einmal an ihnen vorübergezogen und erst drei Tage später
hatte sich Gieshübler's Freundin durch ein von Petersburg
aus an Effi gerichtetes Telegramm noch einmal in Erinnerung gebracht.
Es lautete: Madame la Baronne d'Innstetten, née de Briest.
Bien arrivée. Prince K. à la gare. Plus épris
de moi que jamais. Mille fois merci de votre bon accueil. Compliments
empressés à Monsieur le Baron. Marietta Trippelli.
Innstetten war entzückt und gab diesem Entzücken lebhafteren
Ausdruck als Effi begreifen konnte.
»Ich verstehe Dich nicht, Geert.«
»Weil Du die Trippelli nicht verstehst. Mich entzückt
die Echtheit; alles da, bis auf das Pünktchen überm
i.«
»Du nimmst also alles als eine Komödie?«
»Aber als was sonst? Alles berechnet für dort und für
hier, für Kotschukoff und für Gieshübler. Gieshübler
wird wohl eine Stiftung machen, vielleicht auch bloß ein
Legat für die Trippelli.«
Die musikalische Soiree bei Gieshübler hatte Mitte Dezember
stattgefunden, gleich danach begannen die Vorbereitungen für
Weihnachten, und Effi, die sonst schwer über diese Tage hingekommen
wäre, segnete es, daß sie selber einen Hausstand hatte,
dessen Ansprüche befriedigt werden mußten. Es galt
nachsinnen, fragen, anschaffen, und das alles ließ trübe
Gedanken nicht aufkommen. Am Tage vor Heiligabend trafen Geschenke
von den Eltern aus Hohen-Cremmen ein, und mit in die Kiste waren
allerhand Kleinigkeiten aus dem Kantorhause gepackt: wunderschöne
Reinetten von einem Baum, den Effi und Jahnke vor mehreren Jahren
gemeinschaftlich okuliert hatten, und dazu braune Puls- und Kniewärmer
von Bertha und Hertha. Hulda schrieb nur wenige Zeilen, weil sie,
wie sie sich entschuldigte, für X. noch eine Reisedecke zu
stricken habe. »Was einfach nicht wahr ist,« sagte Effi.
»Ich wette, X. existiert gar nicht. Daß sie nicht davon
lassen kann, sich mit Anbetern zu umgeben die nicht da sind!«
Und so kam Heiligabend heran.
Innstetten selbst baute auf für seine junge Frau, der
Baum brannte und ein kleiner Engel schwebte
oben in Lüften. Auch eine Krippe war da mit hübschen
Transparenten und Inschriften, deren eine sich in leiser Andeutung,
auf ein dem Innstetten'schen Hause für nächstes Jahr
bevorstehendes Ereignis bezog. Effi las es und errötete.
Dann ging sie auf Innstetten zu, um ihm zu danken, aber eh' sie
dies konnte, flog, nach altpommerschem Weihnachtsbrauch, ein Julklapp
in den Hausflur: eine große Kiste, drin eine Welt von Dingen
steckte. Zuletzt fand man die Hauptsache, ein zierliches, mit
allerlei japanischen Bildchen überklebtes Morsellenkästchen,
dessen eigentlichem Inhalt auch noch ein Zettelchen beigegeben
war. Es hieß da:
|
Drei Könige kamen zum Heiligenchrist,
Mohrenkönig einer gewesen ist; -
Ein Mohrenapothekerlein
Erscheinet heute mit Spezerein,
Doch statt Weihrauch und Myrrhen, die nicht zur Stelle,
Bringt er Pistazien- und Mandel-Morselle.
|
Effi las es zwei-, dreimal und freute sich darüber. »Die
Huldigungen eines guten Menschen haben doch etwas besonders Wohlthuendes.
Meinst Du nicht auch, Geert?«
»Gewiß meine ich das. Es ist eigentlich das einzige,
was einem Freude macht oder wenigstens Freude machen sollte. Denn
jeder steckt noch so nebenher in allerhand dummem Zeuge drinn.
Ich auch. Aber freilich, man ist wie man ist.«
Der erste Feiertag war Kirchtag, am zweiten war man bei
Borcke's draußen, alles zugegen, mit Ausnahme
von Grasenabb's, die nicht kommen wollten, »weil Sidonie nicht da
sei«, was man als Entschuldigung allseitig ziemlich sonderbar
fand. Einige tuschelten sogar: »Umgekehrt; gerade deshalb
hätten sie kommen sollen.« Am Sylvester war Ressourcenball,
auf dem Effi nicht fehlen durfte und auch nicht wollte, denn der
Ball gab ihr Gelegenheit, endlich einmal die ganze Stadtflora
beisammen zu sehen. Johanna hatte mit den Vorbereitungen zum Ballstaate
für ihre Gnäd'ge vollauf zu thun, Gieshübler, der,
wie alles, so auch ein Treibhaus hatte, schickte Kamelien, und
Innstetten, so knapp bemessen die Zeit für ihn war, fuhr
am Nachmittage noch über Land nach Papenhagen, wo drei Scheunen
abgebrannt waren.
Es war ganz still im Hause. Christel, beschäftigungslos,
hatte sich schläfrig eine Fußbank an den Herd gerückt,
und Effi zog sich in ihr Schlafzimmer zurück, wo sie sich,
zwischen Spiegel und Sofa, an einen kleinen, eigens zu diesem
Zweck zurecht gemachten Schreibtisch setzte, um von hier aus an
die Mama zu schreiben, der sie für Weihnachtsbrief und Weihnachtsgeschenke
bis dahin bloß in einer Karte gedankt, sonst aber seit Wochen
keine Nachricht gegeben hatte.
»Kessin, 31. Dezember. Meine liebe Mama! Das wird nun wohl ein
langer Schreibebrief werden, denn ich habe - die Karte rechnet
nicht - lange nichts von mir hören lassen. Als ich das letztemal
schrieb, steckte ich noch in den Weihnachtsvorbereitungen, jetzt
liegen die Weihnachtstage schon zurück. Innstetten und mein
guter Freund Gieshübler hatten alles aufgeboten, mir den
Heiligen Abend so angenehm wie möglich zu machen, aber ich
fühlte mich doch ein wenig einsam und bangte mich nach Euch.
Überhaupt, so viel Ursache ich habe, zu danken und froh und
glücklich zu sein, ich kann ein Gefühl des Alleinseins
nicht ganz los werden, und wenn ich mich früher, vielleicht
mehr als nötig, über Hulda's ewige Gefühlsthräne
mokiert habe, so werde ich jetzt dafür bestraft und habe
selber mit dieser Thräne zu kämpfen. Denn Innstetten
darf es nicht sehen. Ich bin aber sicher, daß das alles
besser werden wird, wenn unser Hausstand sich mehr belebt, und
das wird der Fall sein, meine liebe Mama. Was ich neulich andeutete,
das ist nun Gewißheit, und Innstetten bezeugt mir täglich
seine Freude darüber. Wie glücklich ich selber im Hinblick
darauf bin, brauche ich nicht erst zu versichern, schon weil ich
dann Leben und Zerstreuung um mich her haben werde oder, wie Geert
sich ausdrückt, ein 'liebes Spielzeug'. Mit diesem
Wort wird er wohl recht haben, aber er sollte es lieber nicht
gebrauchen, weil es mir immer einen kleinen Stich giebt und mich
daran erinnert, wie jung ich bin, und daß ich noch halb in
die Kinderstube gehöre. Diese Vorstellung verläßt
mich nicht (Geert meint, es sei krankhaft), und bringt es zu Wege,
daß das, was mein höchstes Glück sein sollte,
doch fast noch mehr eine beständige Verlegenheit für
mich ist. Ja, meine liebe Mama, als die guten Flemming'schen Damen
sich neulich nach allem möglichen erkundigten, war mir zu Mut,
als stünd' ich schlecht vorbereitet in einem Examen, und
ich glaube auch, daß ich recht dumm geantwortet habe. Verdrießlich
war ich auch. Denn manches, was wie Teilnahme aussieht, ist doch
bloß Neugier und wirkt um so zudringlicher, als ich ja noch
lange, bis in den Sommer hinein, auf das frohe Ereignis zu warten
habe. Ich denke, die ersten Julitage. Dann mußt Du kommen
oder noch besser, sobald ich einigermaßen wieder bei Wege
bin, komme ich, nehme hier Urlaub und mache mich auf nach Hohen-Cremmen.
Ach, wie ich mich darauf freue und auf die havelländische
Luft - hier ist es fast immer rauh und kalt - und dann jeden
Tag eine Fahrt ins Luch, alles rot und gelb, und ich sehe schon,
wie das Kind die Hände danach streckt, denn es wird doch
wohl fühlen, daß es eigentlich da zu Hause ist. Aber
das schreibe ich nur Dir. Innstetten darf nicht davon wissen,
und auch Dir gegenüber muß ich mich wie entschuldigen,
daß ich mit dem Kinde nach Hohen-Cremmen will und mich heute
schon anmelde, statt Dich, meine liebe Mama, dringend und herzlich
nach Kessin hin einzuladen, das ja doch jeden Sommer fünfzehnhundert
Badegäste hat und Schiffe mit allen möglichen Flaggen
und sogar ein Dünenhotel. Aber daß ich so wenig Gastlichkeit
zeige, das macht nicht, daß ich ungastlich wäre, so
sehr bin ich nicht aus der Art geschlagen, das macht einfach unser
landrätliches Haus, das, so viel Hübsches und Apartes
es hat, doch eigentlich gar kein richtiges Haus ist, sondern nur
eine Wohnung für zwei Menschen, und auch das kaum, denn wir
haben nicht einmal ein Eßzimmer, was doch genant ist, wenn
ein paar Personen zu Besuch sich einstellen. Wir haben freilich
noch Räumlichkeiten im ersten Stock, einen großen Saal
und vier kleine Zimmer, aber sie haben alle etwas wenig Einladendes,
und ich würde sie Rumpelkammern nennen, wenn sich etwas Gerümpel
darin vorfände; sie sind aber ganz leer, ein paar Binsenstühle
abgerechnet, und machen, das Mindeste zu sagen, einen sehr sonderbaren
Eindruck. Nun wirst Du wohl meinen, das alles sei ja leicht zu
ändern. Aber es ist nicht zu ändern; denn das Haus,
das wir bewohnen, ist ... ist ein Spukhaus; da ist es heraus.
Ich beschwöre Dich übrigens, mir auf diese meine Mitteilung
nicht zu antworten, denn ich zeige Innstetten immer Eure Briefe,
und er wäre außer sich, wenn er erführe, daß
ich Dir das geschrieben. Ich hätte es auch nicht gethan und
zwar um so weniger, als ich seit vielen Wochen in Ruhe geblieben
bin und aufgehört habe, mich zu ängstigen; aber Johanna
sagt mir, es käme immer 'mal wieder, namentlich wenn wer Neues
im Hause erschiene. Und ich kann Dich doch einer solchen Gefahr
oder, wenn das zu viel gesagt ist, einer solchen eigentümlichen
und unbequemen Störung nicht aussetzen! Mit der Sache selber
will ich Dich heute nicht behelligen, jedenfalls nicht ausführlich.
Es ist eine Geschichte von einem alten Kapitän, einem sogenannten
Chinafahrer, und seiner Enkelin, die mit einem hiesigen jungen
Kapitän eine kurze Zeit verlobt war und an ihrem Hochzeitstage
plötzlich verschwand. Das möchte hingeh'n. Aber was wichtiger
ist, ein junger Chinese, den ihr Vater aus China mit zurückgebracht
hatte und der erst der Diener und dann der Freund des Alten war,
der starb kurze Zeit danach und ist an einer einsamen Stelle neben
dem Kirchhof begraben worden. Ich bin neulich da vorübergefahren,
wandte mich aber rasch ab und sah nach der andern Seite, weil
ich glaube, ich hätte ihn sonst auf dem Grabe sitzen sehen.
Denn ach, meine liebe Mama, ich habe ihn einmal wirklich gesehen,
oder es ist mir wenigstens so vorgekommen, als ich fest schlief
und Innstetten auf Besuch beim Fürsten war. Es war schrecklich;
ich möchte so 'was nicht wieder erleben. Und in ein solches
Haus, so hübsch es sonst ist (es ist sonderbarer Weise gemütlich
und unheimlich zugleich), kann ich Dich doch nicht gut einladen.
Und Innstetten, trotzdem ich ihm schließlich in vielen Stücken
zustimmte, hat sich dabei, so viel möcht' ich sagen dürfen,
auch nicht ganz richtig benommen. Er verlangte von mir, ich solle
das alles als alten Weiber-Unsinn ansehn und darüber lachen,
aber mit einemmal schien er doch auch wieder selber daran zu glauben,
und stellte mir zugleich die sonderbare Zumutung, einen solchen
Hausspuk als etwas Vornehmes und Altadliges anzusehen. Das kann
ich aber nicht und will es auch nicht. Er ist in diesem Punkt,
so gütig er sonst ist, nicht gütig und nachsichtig genug
gegen mich. Denn daß es etwas damit ist, das weiß
ich von Johanna und weiß es auch von unserer Frau Kruse.
Das ist nämlich unsere Kutscherfrau, die mit einem schwarzen
Huhn beständig in einer überheizten Stube sitzt. Dies
allein schon ist ängstlich genug. Und nun weißt Du,
warum ich kommen will, wenn es erst so weit ist. Ach, wäre
es nur erst so weit. Es sind so viele Gründe, warum ich es
wünsche. Heute abend haben wir Sylvesterball, und Gieshübler
- der einzige nette Mensch hier, trotzdem er eine hohe Schulter
hat, oder eigentlich schon etwas mehr - Gieshübler hat mir
Kamelien geschickt. Ich werde doch vielleicht tanzen. Unser Arzt
sagt, es würde mir nichts schaden, im Gegenteil. Und Innstetten,
was mich fast überraschte, hat auch eingewilligt. Und nun
grüße und küsse Papa und all' die andern Lieben.
Glückauf zum neuen Jahr. Deine Effi.«
