Die Fahrt verlief ganz wie geplant. Um ein Uhr hielt der Schlitten
unten am Bahndamm vor dem Gasthause »Zum Fürsten Bismarck«,
und Golchowski, glücklich, den Landrat bei sich zu sehen,
war beflissen, ein vorzügliches Dejeuner herzurichten. Als
zuletzt das Dessert und der Ungarwein aufgetragen wurden, rief
Innstetten den von Zeit zu Zeit erscheinenden und nach der Ordnung
sehenden Wirt heran und bat ihn, sich mit an den Tisch zu setzen
und ihnen 'was zu erzählen. Dazu war Golchowski denn auch
der rechte Mann; auf zwei Meilen in der Runde wurde kein Ei gelegt,
von dem er nicht wußte. Das zeigte sich auch heute wieder.
Sidonie Grasenabb, Innstetten hatte recht vermutet, war, wie vorige
Weihnachten, so auch diesmal wieder auf vier Wochen zu »Hofpredigers«
gereist; Frau von Palleske, so hieß es weiter, habe ihre
Jungfer wegen einer fatalen Geschichte Knall und Fall entlassen
müssen, und mit dem alten Fraude steh' es schlecht - es werde
zwar in Kurs gesetzt, er sei bloß ausgeglitten, aber es
sei ein Schlaganfall gewesen, und der Sohn, der in Lissa bei den
Husaren stehe, werde jede Stunde erwartet. Nach diesem Geplänkel
war man dann, zu Ernsthafterem übergehend, auf Varzin gekommen.
»Ja,« sagte Golchowski, »wenn man sich den Fürsten
so als Papiermüller denkt! Es ist doch alles sehr merkwürdig;
eigentlich kann er die Schreiberei nicht leiden und das bedruckte
Papier erst recht nicht, und nun legt er doch selber eine Papiermühle
an.«
»Schon recht, lieber Golchowski,« sagte Innstetten,
»aber aus solchen Widersprüchen kommt man im Leben nicht
heraus. Und da hilft auch kein Fürst und keine Größe.«
»Nein, nein, da hilft keine Größe.«
Wahrscheinlich, daß sich dies Gespräch über den
Fürsten noch fortgesetzt hätte, wenn nicht in eben diesem
Augenblicke die von der Bahn her herüberklingende Signalglocke
einen bald eintreffenden Zug angemeldet hätte. Innstetten
sah nach der Uhr.
»Welcher Zug ist das, Golchowski?«
»Das ist der Danziger Schnellzug; er hält hier nicht,
aber ich gehe doch immer hinauf und zähle die Wagen, und
mitunter steht auch einer am Fenster, den ich kenne. Hier gleich
hinter meinem Hofe führt eine Treppe den Damm hinauf, Wärterhaus
417 ...«
»O, das wollen wir uns zu Nutze machen,« sagte Effi.
»Ich sehe so gern Züge ...«
»Dann ist es die höchste Zeit, gnäd'ge Frau.«
Und so machten sich denn alle drei auf den Weg und stellten sich,
als sie oben waren, in einem neben dem Wärterhaus gelegenen
Gartenstreifen auf, der jetzt freilich unter Schnee lag, aber
doch eine frei geschaufelte Stelle hatte. Der Bahnwärter stand
schon da, die Fahne in der Hand. Und jetzt jagte der Zug über
das Bahnhofsgeleise hin und im nächsten Augenblick an dem
Häuschen und an dem Gartenstreifen vorüber. Effi war
so erregt, daß sie nichts sah und nur dem letzten Wagen,
auf dessen Höhe ein Bremser saß, ganz wie benommen
nachblickte.
»Sechs Uhr fünfzig ist er in Berlin,« sagte Innstetten,
»und noch eine Stunde später, so können ihn die
Hohen-Cremmner, wenn der Wind so steht, in der Ferne vorbeiklappern
hören. Möchtest Du mit, Effi?«
Sie sagte nichts. Als er aber zu ihr hinüberblickte, sah
er, daß eine Thräne in ihrem Auge stand.
Effi war, als der Zug vorbeijagte, von einer herzlichen Sehnsucht
erfaßt worden. So gut es ihr ging, sie fühlte sich
trotzdem wie in einer fremden Welt. Wenn sie sich eben noch an
dem einen oder andern entzückt hatte, so kam ihr doch gleich
nachher zum Bewußtsein, was ihr fehlte. Da drüben lag
Varzin, und da nach der anderen Seite hin blitzte der Kroschentiner
Kirchturm auf und weiterhin der Morgenitzer, und da saßen
die Grasenabb's und die Borcke's, n i c h t die Belling's und
n i c h t die Briest's. »Ja, d i e !« Innstetten
hatte ganz recht gehabt mit dem raschen Wechsel ihrer Stimmung,
und sie sah jetzt wieder alles, was zurücklag, wie in einer
Verklärung. Aber so gewiß sie voll Sehnsucht dem Zug
nachgesehen, sie war doch andererseits viel zu beweglichen Gemüts,
um lange dabei zu verweilen und schon auf der Heimfahrt, als
der rote Ball der niedergehenden Sonne seinen Schimmer über
den Schnee ausgoß, fühlte sie sich wieder freier; alles
erschien ihr schön und frisch, und als sie, nach Kessin zurückgekehrt,
fast mit dem Glockenschlag sieben in den Gieshüblerschen
Flur eintrat, war ihr nicht bloß behaglich, sondern beinah
übermütig zu Sinn, wozu die das Haus durchziehende Baldrian-
und Veilchenwurzel-Luft das ihrige beitragen mochte.
Pünktlich waren Innstetten und Frau erschienen, aber trotz
dieser Pünktlichkeit immer noch hinter den anderen Geladenen
zurückgeblieben; Pastor Lindequist, die alte Frau Trippel
und die Trippelli selbst waren schon da. Gieshübler - im
blauen Frack mit mattgoldenen Knöpfen, dazu Pincenez an einem
breiten schwarzen Bande, das wie ein Ordensband auf der blendendweißen
Piquéweste lag - Gieshübler konnte seiner Erregung
nur mit Mühe Herr werden. »Darf ich die Herrschaften
mit einander bekannt machen: Baron und Baronin Innstetten, Frau
Pastor Trippel, Fräulein Marietta Trippelli.« Pastor
Lindequist, den alle kannten, stand lächelnd bei Seite.
Die Trippelli, Anfang der Dreißig, stark, männlich und
von ausgesprochen humoristischem Typus, hatte bis zu dem Momente
der Vorstellung den Sofa-Ehrenplatz inne gehabt. Nach der Vorstellung
aber sagte sie, während sie auf einen in der Nähe stehenden
Stuhl mit hoher Lehne zuschritt: »Ich bitte Sie nunmehro,
gnäd'ge Frau, die Bürden und Fährlichkeiten Ihres
Amtes auf sich nehmen zu wollen. Denn von 'Fährlichkeiten'
- und sie wies auf das Sofa - wird sich in diesem Falle
wohl sprechen lassen. Ich habe Gieshübler schon vor Jahr
und Tag darauf aufmerksam gemacht, aber leider vergeblich; so
gut er ist, so eigensinnig ist er auch.«
»Aber Marietta ...«
»Dieses Sofa nämlich, dessen Geburt um wenigstens fünfzig
Jahre zurückliegt, ist noch nach einem altmodischen Versenkungsprinzip
gebaut, und wer sich ihm anvertraut, ohne vorher einen Kissenturm
untergeschoben zu haben, sinkt ins Bodenlose, jedenfalls aber
gerade tief genug, um die Kniee wie ein Monument aufragen zu lassen.«
All dies wurde seitens der Trippelli mit eben so viel Bonhommie wie
Sicherheit hingesprochen, in einem Tone, der ausdrücken sollte:
'Du bist die Baronin Innstetten, ich bin die Trippelli.'
Gieshübler liebte seine Künstlerfreundin enthusiastisch
und dachte hoch von ihren Talenten; aber all seine Begeisterung
konnte ihn doch nicht blind gegen die Thatsache machen, daß
ihr von gesellschaftlicher Feinheit nur ein bescheidenes Maß
zu teil geworden war. Und diese Feinheit war gerade das, was er
persönlich kultivierte. »Liebe Marietta,« nahm
er das Wort, »Sie haben eine so reizend heitere Behandlung
solcher Fragen; aber was mein Sofa betrifft, so haben Sie wirklich
unrecht, und jeder Sachverständige mag zwischen uns entscheiden.
Selbst ein Mann wie Fürst Kotschukoff ...«
»Ach, ich bitt Sie, Gieshübler, lassen Sie doch den .
Immer Kotschukoff. Sie werden mich bei der gnäd'gen Frau
hier noch in den Verdacht bringen, als ob ich bei diesem Fürsten
- der übrigens nur zu den Kleineren zählt und nicht
mehr als tausend Seelen hat, das heißt hatte (früher
wo die Rechnung noch nach Seelen ging) - als ob ich stolz wäre,
seine tausendundeinste Seele zu sein. Nein, es liegt wirklich
anders; 'immer frei weg', Sie kennen meine Devise, Gieshübler.
Kotschukoff ist ein guter Kamerad und mein Freund, aber von Kunst
und ähnlichen Sachen versteht er gar nichts, von Musik gewiß
nicht, wiewohl er Messen und Oratorien komponiert - die meisten
russischen Fürsten, wenn sie Kunst treiben, fallen ein bißchen
nach der geistlichen oder orthodoxen Seite hin -, und zu den vielen
Dingen, von denen er nichts versteht, gehören auch unbedingt
Einrichtungs- und Tapezierfragen. Er ist gerade vornehm genug,
um sich alles als schön aufreden zu lassen, was bunt aussieht
und viel Geld kostet.«
Innstetten amüsierte sich, und Pastor Lindequist war in einem
allersichtlichsten Behagen. Die gute alte Trippel aber geriet
über den ungenierten Ton ihrer Tochter aus einer Verlegenheit
in die andere, während Gieshübler es für angezeigt
hielt, eine so schwierig werdende Unterhaltung zu coupieren. Dazu
waren etliche Gesangspiecen das beste. Daß Marietta Lieder
von anfechtbarem Inhalt wählen würde, war nicht anzunehmen,
und selbst wenn dies sein sollte, so war ihre Vortragskunst so
groß, daß der Inhalt dadurch geadelt wurde. »Liebe
Marietta,« nahm er also das Wort, »ich habe unser kleines
Mahl zu acht Uhr bestellt. Wir hätten also noch dreiviertel
Stunden, wenn Sie nicht vielleicht vorziehen, während Tisch
ein heitres Lied zu singen oder vielleicht erst, wenn wir von
Tisch aufgestanden sind ...«
»Ich bitte Sie, Gieshübler! Sie, der Mann der Ästhetik.
Es giebt nichts Unästhetischeres als einen Gesangsvortrag
mit vollem Magen. Außerdem - und ich weiß, Sie sind
ein Mann der ausgesuchten Küche, ja, Gourmand - außerdem
schmeckt es besser, wenn man die Sache hinter sich hat. Erst Kunst
und dann Nußeis, das ist die richtige Reihenfolge.«
»Also ich darf Ihnen die Noten bringen, Marietta?«
»Noten bringen. Ja, was heißt das, Gieshübler?
Wie ich Sie kenne, werden Sie ganze Schränke voll Noten haben,
und ich kann Ihnen doch nicht den ganzen Bock und Bote vorspielen.
Noten! Was für Noten, Gieshübler, darauf kommt
es an. Und dann daß es richtig liegt, Altstimme ...«
»Nun, ich werde schon bringen.«
Und er machte sich an einem Schranke zu schaffen, ein Fach nach
dem andern herausziehend, während die Trippelli ihren Stuhl
weiter links um den Tisch herum schob, so daß sie nun dicht
neben Effi saß.
»Ich bin neugierig, was er bringen wird,« sagte sie.
Effi geriet dabei in eine kleine Verlegenheit.
»Ich möchte annehmen,« antwortete sie befangen,
»etwas von Gluck, etwas ausgesprochen Dramatisches ... Überhaupt,
mein gnädigstes Fräulein, wenn ich mir die Bemerkung erlauben
darf, ich bin überrascht, zu hören, daß Sie lediglich
Konzertsängerin sind. Ich dächte, daß Sie, wie
wenige, für die Bühne berufen sein müßten.
Ihre Erscheinung, Ihre Kraft, Ihr Organ ... ich habe noch so wenig
derart kennen gelernt, immer nur auf kurzen Besuchen in Berlin
... und dann war ich noch ein halbes Kind. Aber ich dächte
Orpheus oder Chrimhild oder die Vestalin.«
Die Trippelli wiegte den Kopf und sah in Abgründe, kam aber
zu keiner Entgegnung, weil eben jetzt Gieshübler wieder erschien
und ein halbes Dutzend Notenhefte vorlegte, die seine Freundin
in rascher Reihenfolge durch die Hand gleiten ließ. »'Erlkönig'
... ah, bah; 'Bächlein, laß dein Rauschen sein ...'
Aber Gieshübler, ich bitte Sie, Sie sind ein Murmeltier,
Sie haben sieben Jahre lang geschlafen ... Und hier Löwe'sche
Balladen; auch nicht gerade das Neueste. 'Glocken von Speyer' ...
Ach dies ewige Bim Bam, das beinah' einer Kulissenreißerei
gleich kommt, ist geschmacklos und abgestanden. Aber hier
'Ritter Olaf' ... nun das geht.«
Und sie stand auf, und während der Pastor begleitete, sang
sie den 'Olaf' mit großer Sicherheit und Bravour
und erntete allgemeinen Beifall.
Es wurde dann noch ähnlich Romantisches gefunden, einiges
aus dem fliegenden Holländer und aus Zampa, dann der Heideknabe,
lauter Sachen, die sie mit eben so viel Virtuosität wie Seelenruhe
vortrug, während Effi von Text und Komposition wie benommen war.
Als die Trippelli mit dem Heideknaben fertig war,
sagte sie: »Nun ist es genug,« eine Erklärung,
die so bestimmt von ihr abgegeben wurde, daß weder Gieshübler
noch ein anderer den Mut hatte, mit weiteren Bitten in sie zu
dringen. Am wenigsten Effi. Diese sagte nur, als Gieshübler's
Freundin wieder neben ihr saß: »Daß ich Ihnen
doch sagen könnte, mein gnädigstes Fräulein, wie
dankbar ich Ihnen bin! Alles so schön, so sicher, so gewandt.
Aber eines, wenn Sie mir verzeihen, bewundere ich fast noch mehr,
das ist die Ruhe, womit Sie diese Sachen vorzutragen wissen. Ich
bin so leicht Eindrücken hingegeben, und wenn ich die kleinste
Gespenstergeschichte höre, so zittere ich und kann mich kaum
wieder zurecht finden. Und Sie tragen das so mächtig und erschütternd
vor und sind selbst ganz heiter und guter Dinge.«
»Ja, meine gnädigste Frau, das ist in der Kunst nicht
anders. Und nun gar erst auf dem Theater, vor dem ich übrigens
glücklicher Weise bewahrt geblieben bin. Denn so gewiß
ich mich persönlich gegen seine Versuchungen gefeit fühle
- es verdirbt den Ruf, also das beste, was man hat. Im übrigen
stumpft man ab, wie mir Kolleginnen hundertfach versichert haben.
Da wird vergiftet und erstochen, und der toten Julia flüstert
Romeo einen Kalauer ins Ohr oder wohl auch eine Malice, oder er
drückt ihr einen kleinen Liebesbrief in die Hand.«
»Es ist mir unbegreiflich. Und um bei dem stehen zu bleiben,
was ich Ihnen diesen Abend verdanke, beispielsweise bei dem Gespenstischen
im Olaf, ich versichere Ihnen, wenn ich einen ängstlichen
Traum habe, oder wenn ich glaube, über mir hörte ich
ein leises Tanzen oder Musizieren, während doch niemand da
ist, oder es schleicht wer an meinem Bette vorbei, so bin ich außer
mir und kann es Tage lang nicht vergessen.«
»Ja, meine gnädigste Frau, was Sie da schildern und beschreiben,
das ist auch etwas anderes, das ist ja wirklich oder kann wenigstens
etwas Wirkliches sein. Ein Gespenst, das durch die Ballade geht,
da graule ich mich gar nicht, aber ein Gespenst, das durch meine
Stube geht, ist mir, gerade so wie andern, sehr unangenehm. Darin
empfinden wir also ganz gleich.«
»Haben Sie denn dergleichen auch einmal erlebt?«
»Gewiß. Und noch dazu bei Kotschukoff. Und ich habe
mir auch ausbedungen, daß ich diesmal anders schlafe, vielleicht
mit der englischen Gouvernante zusammen. Das ist nämlich
eine Quäkerin, und da ist man sicher.«
»Und Sie halten dergleichen für möglich?«
»Meine gnädigste Frau, wenn man so alt ist wie ich und
viel 'rumgestoßen wurde und in Rußland war und sogar
auch ein halbes Jahr in Rumänien, da hält man alles
für möglich. Es giebt so viel schlechte Menschen, und
das andere findet sich dann auch, das gehört dann so zu sagen
mit dazu.«
Effi horchte auf.
»Ich bin,« fuhr die Trippelli fort, »aus einer
sehr aufgeklärten Familie (bloß mit Mutter war es immer
nicht so recht), und doch sagte mir mein Vater, als das mit dem
Psychographen aufkam: 'Höre, Marie, das ist 'was.' Und er hat
recht gehabt, es ist auch 'was damit. Überhaupt, man ist links
und rechts umlauert, hinten und vorn. Sie werden das noch kennen lernen.
«
In diesem Augenblicke trat Gieshübler heran und bot Effi den
Arm, Innstetten führte Marietta, dann folgte Pastor Lindequist
und die verwitwete Trippel. So ging man zu Tisch.
