Innstetten war erst sechs Uhr früh von Varzin zurückgekommen
und hatte sich, Rollos Liebkosungen abwehrend, so leise wie möglich
in sein Zimmer zurückgezogen. Er machte sich's hier bequem
und duldete nur, daß ihn Friedrich mit einer Reisedecke
zudeckte. »Wecke mich um neun.« Und um diese Stunde war er denn
auch geweckt worden. Er stand rasch auf und sagte: »Bringe das
Frühstück.«
»Die gnädige Frau schläft noch.«
»Aber es ist ja schon spät. Ist etwas passiert?«
»Ich weiß es nicht; ich weiß nur, Johanna hat
die Nacht über im Zimmer der gnädigen Frau schlafen
müssen.«
»Nun, dann schicke Johanna.«
Diese kam denn auch. Sie hatte denselben rosigen Teint wie immer,
schien sich also die Vorgänge der Nacht nicht sonderlich
zu Gemüte genommen zu haben.
»Was ist das mit der gnäd'gen Frau? Friedrich sagt mir,
es sei 'was passiert und Sie hätten drüben geschlafen.«
»Ja, Herr Baron. Gnäd'ge Frau klingelte dreimal ganz
rasch hintereinander, daß ich gleich dachte, es bedeutet
'was. Und so war es auch. Sie hat wohl geträumt oder vielleicht
war es auch das andere.«
»Welches andere?«
»Ach, der gnäd'ge Herr wissen ja.«
»Ich weiß nichts. Jedenfalls muß ein Ende damit
gemacht werden. Und wie fanden Sie die Frau?«
»Sie war wie außer sich und hielt das Halsband von
Rollo, der neben dem Bett der gnäd'gen Frau stand, fest umklammert.
Und das Tier ängstigte sich auch.«
»Und was hatte sie geträumt oder, meinetwegen auch, was
hatte sie gehört oder gesehen? Was sagte sie?«
»Es sei so hingeschlichen, dicht an ihr vorbei.«
»Was? Wer?«
»Der von oben. Der aus dem Saal oder aus der kleinen Kammer.«
»Unsinn, sag' ich. Immer wieder das alberne Zeug; ich mag
davon nicht mehr hören. Und dann blieben Sie bei der Frau?«
»Ja, gnäd'ger Herr. Ich machte mir ein Lager an der
Erde dicht neben ihr. Und ich mußte ihre Hand halten, und
dann schlief sie ein.«
»Und sie schläft noch?«
»Ganz fest.«
»Das ist mir ängstlich, Johanna. Man kann sich gesund
schlafen, aber auch krank. Wir müssen sie wecken, natürlich
vorsichtig, daß sie nicht wieder erschrickt. Und Friedrich
soll das Frühstück nicht bringen; ich will warten, bis
die gnäd'ge Frau da ist. Und machen Sie's geschickt.«
Eine halbe Stunde später kam Effi. Sie sah reizend aus, ganz
blaß, und stützte sich auf Johanna. Als sie aber Innstetten's
ansichtig wurde, stürzte sie auf ihn zu und umarmte und küßte
ihn. Und dabei liefen ihr die Thränen übers Gesicht.
»Ach, Geert, Gott sei Dank, daß Du da bist. Nun ist
alles wieder gut. Du darfst nicht wieder fort, Du darfst mich
nicht wieder allein lassen.«
»Meine liebe Effi ... stellen Sie hin, Friedrich, ich werde
schon alles zurecht machen ... meine liebe Effi, ich lasse Dich
ja nicht allein aus Rücksichtslosigkeit oder Laune, sondern
weil es so sein muß; ich habe keine Wahl, ich bin ein Mann
im Dienst, ich kann zum Fürsten oder auch zur Fürstin
nicht sagen: Durchlaucht, ich kann nicht kommen, meine Frau ist
so allein, oder meine Frau fürchtet sich. Wenn ich das sagte,
würden wir in einem ziemlich komischen Lichte dastehen, ich
gewiß, und Du auch. Aber nimm erst eine Tasse Kaffee.«
Effi trank, was sie sichtlich belebte. Dann ergriff sie wieder
ihres Mannes Hand und sagte: »Du sollst recht haben; ich
sehe ein, das geht nicht. Und dann wollen wir ja auch höher
hinauf. Ich sage wir, denn ich bin eigentlich begieriger danach
als Du ...«
»So sind alle Frauen,« lachte Innstetten.
»Also abgemacht; Du nimmst die Einladungen an nach wie vor,
und ich bleibe hier und warte auf meinen 'hohen Herrn', wobei
mir Hulda unterm Holunderbaum einfällt. Wie's ihr wohl gehen
mag?«
»Damen, wie Hulda, geht es immer gut. Aber was wolltest Du
noch sagen?«
»Ich wollte sagen, ich bleibe hier und auch allein, wenn
es sein muß. Aber nicht in diesem Hause. Laß uns die
Wohnung wechseln. Es giebt so hübsche Häuser am Bollwerk,
eins zwischen Konsul Martens und Konsul Grützmacher und eins
am Markt, gerade gegenüber von Gieshübler; warum können
wir da nicht wohnen? Warum gerade hier? Ich habe, wenn wir Freunde
und Verwandte zum Besuch hatten, oft gehört, daß in
Berlin Familien ausziehen wegen Klavierspiel oder wegen Schwaben
oder wegen einer unfreundlichen Portiersfrau; wenn das um solcher
Kleinigkeiten willen geschieht ...«
»Kleinigkeiten? Portiersfrau? das sage nicht ...«
»Wenn das um solcher Dinge willen möglich ist, so muß
es doch auch hier möglich sein, wo Du Landrat bist und die
Leute Dir zu Willen sind und viele selbst zu Dank verpflichtet.
Gieshübler würde uns gewiß dabei behülflich sein,
wenn auch nur um meinetwegen, denn er wird Mitleid mit mir haben.
Und nun sage, Geert, wollen wir dies verwunschene Haus aufgeben,
dies Haus mit dem ...«
»... Chinesen, willst Du sagen. Du siehst, Effi, man kann
das furchtbare Wort aussprechen, ohne daß er erscheint.
Was Du da gesehen hast oder was da, wie Du meinst, an deinem Bette
vorüberschlich, das war der kleine Chinese, den die Mädchen
oben an die Stuhllehne geklebt haben; ich wette, daß er
einen blauen Rock an hatte und einen ganz flachen Deckelhut mit
einem blanken Knopf oben.«
Sie nickte.
»Nun siehst Du, Traum, Sinnestäuschung. Und dann wird
Dir Johanna wohl gestern Abend 'was erzählt haben, von der
Hochzeit hier oben ...«
»Nein.«
»Desto besser.«
»Kein Wort hat sie mir erzählt. Aber ich sehe doch aus
dem allen, daß es hier etwas Sonderbares giebt. Und dann
das Krokodil; es ist alles so unheimlich hier.«
»Den ersten Abend, als Du das Krokodil sahst, fandest Du's
märchenhaft ...«
»Ja, damals ...«
»... Und dann, Effi, kann ich hier nicht gut fort, auch wenn
es möglich wäre, das Haus zu verkaufen oder einen Tausch
zu machen. Es ist damit ganz wie mit einer Absage nach Varzin
hin. Ich kann hier in der Stadt die Leute nicht sagen lassen,
Landrat Innstetten verkauft sein Haus, weil seine Frau den aufgeklebten
kleinen Chinesen als Spuk an ihrem Bette gesehen hat. Dann bin
ich verloren, Effi. Von solcher Lächerlichkeit kann man sich
nie wieder erholen.«
»Ja, Geert, bist Du denn so sicher, daß es so 'was nicht
giebt?«
»Will ich nicht behaupten. Es ist eine Sache,
die man glauben und noch besser nicht glauben kann. Aber angenommen,
es gäbe dergleichen, was schadet es? Daß in der Luft
Bacillen herumfliegen, von denen Du gehört haben wirst, ist
viel schlimmer und gefährlicher als diese ganze Geistertummelage.
Vorausgesetzt, daß sie sich tummeln, daß so 'was wirklich
existiert. Und dann bin ich überrascht, solcher Furcht und
Abneigung gerade bei Dir zu begegnen, bei einer Briest.
Das ist ja, wie wenn Du aus einem kleinen Bürgerhause stammtest.
Spuk ist ein Vorzug, wie Stammbaum und dergleichen, und ich kenne
Familien, die sich ebenso gern ihr Wappen nehmen ließen als
ihre 'weiße Frau', die natürlich auch eine schwarze
sein kann.«
Effi schwieg.
»Nun, Effi. Keine Antwort?«
»Was soll ich antworten? Ich habe Dir nachgegeben und mich
willig gezeigt, aber ich finde doch, daß Du Deinerseits
teilnahmsvoller sein könntest. Wenn Du wüßtest,
wie mir gerade danach verlangt. Ich habe sehr gelitten, wirklich
sehr, und als ich Dich sah, da dacht' ich, nun würd' ich frei
werden von meiner Angst. Aber Du sagst mir bloß, daß
Du nicht Lust hättest, Dich lächerlich zu machen, nicht
vor dem Fürsten und auch nicht vor der Stadt. Das ist ein
geringer Trost. Ich finde es wenig und um so weniger, als Du Dir
schließlich auch noch widersprichst und nicht bloß
persönlich an diese Dinge zu glauben scheinst, sondern auch
noch einen adligen Spukstolz von mir forderst. Nun, den hab' ich
nicht. Und wenn Du von Familien sprichst, denen ihr Spuk so viel
wert sei wie ihr Wappen, so ist das Geschmackssache; mir gilt
mein Wappen mehr. Gott sei Dank haben wir Briest's keinen Spuk.
Die Briest's waren immer sehr gute Leute, und damit hängt
es wohl zusammen.«
Der Streit hätte wohl noch angedauert und vielleicht zu einer
ersten ernstlichen Verstimmung geführt, wenn Friedrich nicht
eingetreten wäre, um der gnädigen Frau einen Brief zu
übergeben. »Von Herrn Gieshübler. Der Bote wartet
auf Antwort.«
Aller Unmut auf Effi's Antlitz war sofort verschwunden; schon bloß
Gieshübler's Namen zu hören, that Effi wohl, und ihr Wohlgefühl
steigerte sich, als sie jetzt den Brief musterte. Zunächst
war es gar kein Brief, sondern ein Billett, die Adresse »Frau
Baronin von Innstetten, geb. von Briest« in wundervoller
Kanzleihandschrift, und statt des Siegels ein aufgeklebtes rundes
Bildchen, eine Lyra, darin ein Stab steckte. Dieser Stab konnte
aber auch ein Pfeil sein. Sie reichte das Billett ihrem Manne,
der es ebenfalls bewunderte.
»Nun lies aber.«
Und nun löste Effi die Oblate und las: »Hochverehrteste
Frau, gnädigste Frau Baronin! Gestatten Sie mir, meinem respektvollsten
Vormittagsgruß eine ganz gehorsamste Bitte hinzufügen
zu dürfen. Mit dem Mittagszuge wird eine vieljährige
liebe Freundin von mir, eine Tochter unserer Guten Stadt Kessin,
Fräulein Marietta Trippelli, hier eintreffen und bis morgen
früh unter uns weilen. Am 17. will sie in Petersburg sein,
um daselbst bis Mitte Januar zu konzertieren. Fürst Kotschukoff
öffnet ihr auch diesmal wieder sein gastliches Haus. In ihrer
immer gleichen Güte gegen mich hat die Trippelli mir zugesagt,
den heutigen Abend bei mir zubringen und einige Lieder ganz nach
meiner Wahl (denn sie kennt keine Schwierigkeiten) vortragen zu
wollen. Könnten sich Frau Baronin dazu verstehen, diesem
Musikabende beizuwohnen? sieben Uhr. Ihr Herr Gemahl, auf dessen
Erscheinen ich mit Sicherheit rechne, wird meine gehorsamste Bitte
unterstützen. Anwesend nur Pastor Lindequist (der begleitet)
und natürlich die verwitwete Frau Pastorin Trippel. In vorzüglicher
Ergebenheit A. Gieshübler.«
»Nun -« sagte Innstetten, »ja oder nein?«
»Natürlich ja. Das wird mich herausreißen. Und
dann kann ich doch meinem lieben Gieshübler nicht gleich
bei seiner ersten Einladung einen Korb geben.«
»Einverstanden. Also Friedrich, sagen Sie Mirambo, der doch
wohl das Billett gebracht haben wird, wir würden die Ehre
haben.«
Friedrich ging. Als er fort war, fragte Effi: »Wer ist Mirambo?«
»Der echte Mirambo ist Räuberhauptmann in Afrika ... Tanganika-See,
wenn Deine Geographie so weit reicht ... unserer aber ist bloß
Gieshübler's Kohlenprovisor und Faktotum und wird heute abend
in Frack und baumwollenen Handschuhen sehr wahrscheinlich aufwarten.«
Es war ganz ersichtlich, daß der kleine Zwischenfall auf
Effi günstig eingewirkt und ihr ein gut Teil ihrer Leichtlebigkeit
zurückgegeben hatte, Innstetten aber wollte das Seine thun,
diese Rekonvaleszens zu steigern. »Ich freue mich, daß
Du ja gesagt hast und so rasch und ohne Besinnen, und nun möcht'
ich Dir noch einen Vorschlag machen, um Dich ganz wieder in Ordnung
zu bringen. Ich sehe wohl, es schleicht Dir noch von der Nacht her
etwas nach, das zu meiner Effi nicht paßt, das durchaus
wieder fort muß, und dazu giebt es nichts Besseres als frische
Luft. Das Wetter ist prachtvoll, frisch und milde zugleich, kaum
daß ein Lüftchen geht; was meinst Du, wenn wir eine
Spazierfahrt machten, aber eine lange, nicht bloß so durch
die Plantage hin, und natürlich im Schlitten und das Geläut
auf und die weißen Schneedecken, und wenn wir dann um vier
zurück sind, dann ruhst Du Dich aus, und um sieben sind wir
bei Gieshübler und hören die Trippelli.«
Effi nahm seine Hand. »Wie gut Du bist, Geert, und wie nachsichtig.
Denn ich muß Dir ja kindisch oder doch wenigstens sehr kindlich
vorgekommen sein; erst das mit meiner Angst und dann hinterher,
daß ich Dir einen Hausverkauf, und was noch schlimmer ist,
das mit dem Fürsten ansinne. Du sollst ihm den Stuhl vor
die Thür setzen - es ist zum Lachen. Denn schließlich
ist er doch der Mann, der über uns entscheidet. Auch über
mich. Du glaubst gar nicht, wie ehrgeizig ich bin. Ich habe Dich
eigentlich bloß aus Ehrgeiz geheiratet. Aber Du mußt
nicht solch ernstes Gesicht dabei machen. Ich liebe Dich ja ...
wie heißt es doch, wenn man einen Zweig abbricht und die
Blätter abreißt? Von Herzen mit Schmerzen, über
alle Maßen.«
Und sie lachte hell auf. »Und nun sage mir,« fuhr sie
fort, als Innstetten noch immer schwieg, »wo soll es hingehen?«
»Ich habe mir gedacht, nach der Bahnstation, aber auf einem
Umwege, und dann auf der Chaussee zurück. Und auf der Station
essen wir oder noch besser bei Golchowski, in dem Gasthofe 'Zum
Fürsten Bismarck', dran wir, wenn Du Dich vielleicht erinnerst,
am Tage unserer Ankunft vorüber kamen. Solch Vorsprechen wirkt
immer gut, und ich habe dann mit dem Starosten von Effi's Gnaden
ein Wahlgespräch, und wenn er auch persönlich nicht
viel taugt, seine Wirtschaft hält er in Ordnung und seine
Küche noch besser. Auf Essen und Trinken verstehen sich die
Leute hier.«
Es war gegen elf, daß sie dies Gespräch führten.
Um zwölf hielt Kruse mit dem Schlitten vor der Thür,
und Effi stieg ein. Johanna wollte Fußsack und Pelze bringen,
aber Effi hatte nach allem, was noch auf ihr lag, so sehr das
Bedürfnis nach frischer Luft, daß sie alles zurückwies
und nur eine doppelte Decke nahm. Innstetten aber sagte zu Kruse:
»Kruse, wir wollen nun also nach dem Bahnhof, wo wir zwei
beide heute früh schon 'mal waren. Die Leute werden sich wundern,
aber es schadet nichts. Ich denke, wir fahren hier an der Plantage
lang und dann links auf den Kroschentiner Kirchturm zu. Lassen
Sie die Pferde laufen. Um eins müssen wir am Bahnhof sein.«
Und so ging die Fahrt. Über den weißen Dächern
der Stadt stand der Rauch, denn die Luftbewegung war gering. Auch
Utpatel's Mühle drehte sich nur langsam, und im Fluge fuhren
sie daran vorüber, dicht am Kirchhofe hin, dessen Berberitzensträucher
über das Gitter hinauswuchsen und mit ihren Spitzen Effi
streiften, so daß der Schnee auf ihre Reisedecke fiel. Auf
der anderen Seite des Wegs war ein eingefriedeter Platz, nicht
viel größer als ein Gartenbeet, und innerhalb nichts
sichtbar als eine junge Kiefer, die mitten daraus hervorragte.
»Liegt da auch wer begraben?« fragte Effi.
»Ja. Der Chinese.«
Effi fuhr zusammen; es war ihr wie ein Stich. Aber sie hatte doch
Kraft genug, sich zu beherrschen, und fragte mit anscheinender
Ruhe: »Unserer?«
»Ja, unserer. Auf dem Gemeindekirchhof war er natürlich
nicht unterzubringen, und da hat denn Kapitän Thomsen, der
so 'was wie sein Freund war, diese Stelle gekauft und ihn hier
begraben lassen. Es ist auch ein Stein da mit Inschrift. Alles
natürlich vor meiner Zeit. Aber es wird noch immer davon
gesprochen.«
»Also ist es doch 'was damit. Eine Geschichte. Du sagtest
schon heute früh so 'was. Und es wird am Ende das beste sein,
ich höre, was es ist. So lang' ich es nicht weiß, bin
ich, trotz aller guten Vorsätze, doch immer ein Opfer meiner
Vorstellungen. Erzähle mir das Wirkliche. Die Wirklichkeit
kann mich nicht so quälen wie meine Phantasie.«
»Bravo, Effi. Ich wollte nicht davon sprechen. Aber nun macht
es sich so von selbst, und das ist gut. Übrigens ist es eigentlich
gar nichts.«
»Mir gleich; gar nichts oder viel oder wenig. Fange nur an.«
»Ja, das ist leicht gesagt. Der Anfang ist immer das schwerste,
auch bei Geschichten. Nun, ich denke, ich beginne mit Kapitän
Thomsen.«
»Gut, gut.«
»Also Thomsen, den ich Dir schon genannt habe, war viele
Jahre lang ein sogenannter Chinafahrer, immer mit Reisfracht zwischen
Shanghai und Singapure, und mochte wohl schon sechzig sein, als
er hier ankam. Ich weiß nicht, ob er hier geboren war oder
ob er andere Beziehungen hier hatte. Kurz und gut, er war nun
da und verkaufte sein Schiff, einen alten Kasten, draus er nicht
viel heraus schlug, und kaufte sich ein Haus, dasselbe, drin wir
jetzt wohnen. Denn er war draußen in der Welt ein vermögender
Mann geworden. Und von daher schreibt sich auch das Krokodil und
der Haifisch und natürlich auch das Schiff ... Also Thomsen
war nun da, ein sehr adretter Mann (so wenigstens hat man mir
gesagt) und wohl gelitten. Auch beim Bürgermeister Kirstein,
vor allem bei dem damaligen Pastor in Kessin, einem Berliner,
der kurz vor Thomsen auch hierher gekommen war und viel Anfeindung
hatte.«
»Glaub' ich. Ich merke das auch; sie sind hier so streng und
selbstgerecht. Ich glaube, das ist pommersch.«
»Ja und nein, je nachdem. Es giebt auch Gegenden, wo sie gar
nicht streng sind und wo's drunter und drüber geht... Aber
sieh nur, Effi, da haben wir gerade den Kroschentiner Kirchturm
dicht vor uns. Wollen wir nicht den Bahnhof aufgeben und lieber
bei der alten Frau von Grasenabb vorfahren? Sidonie, wenn ich
recht berichtet bin, ist nicht zu Hause. Wir könnten es also
wagen ...«
»Ich bitte Dich, Geert, wo denkst Du hin? Es ist ja himmlisch,
so hinzufliegen, und ich fühle ordentlich, wie mir so frei
wird und wie alle Angst von mir abfällt. Und nun soll ich
das alles aufgeben, bloß um den alten Leuten eine Stippvisite
zu machen und ihnen sehr wahrscheinlich eine Verlegenheit zu schaffen.
Um Gottes willen nicht. Und dann will ich vor allem auch die Geschichte
hören. Also wir waren bei Kapitän Thomsen, den ich mir
als einen Dänen oder Engländer denke, sehr sauber, mit
weißen Vatermördern und ganz weißer Wäsche
...«
»Ganz richtig. So soll er gewesen sein. Und mit ihm war eine
junge Person von etwa zwanzig, von der einige sagen, sie sei seine
Nichte gewesen, aber die meisten sagen, seine Enkelin, was übrigens
den Jahren nach kaum möglich. Und außer der Enkelin
oder der Nichte war da auch noch ein Chinese, derselbe, der da
zwischen den Dünen liegt und an dessen Grab wir eben vorüber gekommen
sind.«
»Gut, gut.«
»Also dieser Chinese war Diener bei Thomsen, und Thomsen
hielt so große Stücke auf ihn, daß er eigentlich
mehr Freund als Diener war. Und das ging so Jahr und Tag. Da mit
einemmale hieß es, Thomsens Enkelin, die, glaub' ich, Nina
hieß, solle sich, nach des Alten Wunsche, verheiraten, auch
mit einem Kapitän. Und richtig, so war es auch. Es gab eine
große Hochzeit im Hause, der Berliner Pastor that sie zusammen,
und Müller Utpatel, der ein Konventikler war, und Gieshübler,
dem man in der Stadt in kirchlichen Dingen auch nicht recht traute,
waren geladen und vor allem viele Kapitäne mit ihren Frauen
und Töchtern. Und wie man sich denken kann, es ging hoch
her. Am Abend aber war Tanz, und die Braut tanzte mit jedem und
zuletzt auch mit dem Chinesen. Da mit einemmal hieß es,
sie sei fort, die Braut nämlich. Und sie war auch wirklich
fort, irgend wohin, und niemand weiß, was da vorgefallen.
Und nach vierzehn Tagen starb der Chinese; Thomsen kaufte die
Stelle, die ich Dir gezeigt habe, und da wurd' er begraben. Der
Berliner Pastor aber soll gesagt haben: Man hätte ihn auch
ruhig auf dem christlichen Kirchhof begraben können, denn
der Chinese sei ein sehr guter Mensch gewesen und gerade so gut
wie die anderen. Wen er mit den 'anderen' eigentlich gemeint hat,
sagte mir Gieshübler, das wisse man nicht recht.«
»Aber ich bin in dieser Sache doch ganz und gar gegen den
Pastor; so 'was darf man nicht aussprechen, weil es gewagt und
unpassend ist. Das würde selbst Niemeyer nicht gesagt haben.«
»Und das ist auch dem armen Pastor, der übrigens Trippel
hieß, sehr verdacht worden, so daß es eigentlich ein
Glück war, daß er drüber hin starb, sonst hätte
er seine Stelle verloren. Denn die Stadt, trotzdem sie ihn gewählt,
war doch auch gegen ihn, gerade so wie Du, und das Konsistorium
natürlich erst recht.«
»Trippel, sagst Du? Dann hängt er am Ende mit der Frau
Pastor Trippel zusammen, die wir heute abend sehen sollen?«
»Natürlich hängt er mit der zusammen. Er war ihr
Mann und ist der Vater von der Trippelli.«
Effi lachte. »Von der Trippelli! Nun sehe ich erst klar in
allem. Daß sie in Kessin geboren, schrieb ja schon Gieshübler;
aber ich dachte, sie sei die Tochter von einem italienischen Konsul.
Wir haben ja so viele fremdländische Namen hier. Und nun
ist sie gut deutsch und stammt von Trippel. Ist sie denn so vorzüglich,
daß sie wagen konnte, sich so zu italienisieren?«
»Dem Mutigen gehört die Welt. Übrigens ist sie
ganz tüchtig. Sie war ein paar Jahre lang in Paris bei der
berühmten Viardot, wo sie auch den russischen Fürsten
kennen lernte, denn die russischen Fürsten sind sehr aufgeklärt,
über kleine Standesvorurteile weg, und Kotschukoff und Gieshübler
- den sie übrigens 'Onkel' nennt, und man kann fast von ihm
sagen, er sei der geborene Onkel - diese beiden sind es recht
eigentlich, die die kleine Marie Trippel zu dem gemacht haben,
was sie jetzt ist. Gieshübler war es, durch den sie nach
Paris kam, und Kotschukoff hat sie dann in die Trippelli transponiert.
«
»Ach, Geert, wie reizend ist das alles, und welch Alltagsleben
habe ich doch in Hohen-Cremmen geführt! Nie was Apartes.«
Innstetten nahm ihre Hand und sagte: »So darfst Du nicht
sprechen, Effi. Spuk, dazu kann man sich stellen wie man will.
Aber hüte Dich vor dem Aparten oder was man so das Aparte
nennt. Was Dir so verlockend erscheint - und ich rechne auch ein
Leben dahin, wie's die Trippelli führt - das bezahlt man
in der Regel mit seinem Glück. Ich weiß wohl, wie sehr
Du Dein Hohen-Cremmen liebst und daran hängst, aber Du spottest
doch auch oft darüber und hast keine Ahnung davon, was stille
Tage, wie die Hohen-Cremmner, bedeuten.«
»Doch, doch,« sagte sie. »Ich weiß es wohl.
Ich höre nur gern einmal von etwas anderem, und dann wandelt
mich die Lust an, mit dabei zu sein. Aber Du hast ganz recht. Und
eigentlich hab' ich doch eine Sehnsucht nach Ruh' und Frieden.«
Innstetten drohte ihr mit dem Finger. »Meine einzig liebe
Effi, das denkst Du Dir nun auch wieder so aus. Immer Phantasien,
'mal so, 'mal so.«
