Elf war es längst vorüber; aber Gieshübler hatte
sich noch immer nicht sehen lassen. »Ich kann nicht länger
warten,« hatte Geert gesagt, den der Dienst abrief. »Wenn
Gieshübler noch erscheint, so sei möglichst entgegenkommend,
dann wird es vorzüglich gehen; er darf nicht verlegen werden;
ist er befangen, so kann er kein Wort finden oder sagt die sonderbarsten
Dinge; weißt Du ihn aber in Zutrauen und gute Laune zu bringen,
dann redet er wie ein Buch. Nun, Du wirst es schon machen. Erwarte
mich nicht vor drei; es giebt drüben allerlei zu thun. Und
das mit dem Saal oben wollen wir noch überlegen; es wird
aber wohl am besten sein, wir lassen es beim Alten.«
Damit ging Innstetten und ließ seine junge Frau allein.
Diese saß, etwas zurückgelehnt, in einem lauschigen
Winkel am Fenster und stützte sich, während sie hinaussah,
mit ihrem linken Arm auf ein kleines Seitenbrett, das aus dem
Zylinderbüro herausgezogen war. Die Straße war die
Hauptverkehrsstraße nach dem Strande hin, weshalb denn auch
in Sommerzeit ein reges Leben hier herrschte, jetzt aber, um Mitte
November, war alles leer und still, und nur ein paar arme Kinder,
deren Eltern in etlichen ganz am äußersten Rande der
»Plantage« gelegenen Strohdachhäusern wohnten,
klappten in ihren Holzpantinen an dem Innstetten'schen Hause vorüber.
Effi empfand aber nichts von dieser Einsamkeit, denn ihre Phantasie
war noch immer bei den wunderlichen Dingen, die sie, kurz vorher,
während ihrer Umschau haltenden Musterung im Hause gesehen
hatte. Diese Musterung hatte mit der Küche begonnen, deren
Herd eine moderne Konstruktion aufwies, während an der Decke
hin, und zwar bis in die Mädchenstube hinein, ein elektrischer
Draht lief, - beides vor kurzem erst hergerichtet. Effi war erfreut
gewesen, als ihr Innstetten davon erzählt hatte, dann aber
waren sie von der Küche wieder in den Flur zurück- und
von diesem in den Hof hinausgetreten, der in seiner ersten Hälfte
nicht viel mehr als ein, zwischen zwei Seitenflügeln hinlaufender
ziemlich schmaler Gang war. In diesen Flügeln war alles untergebracht,
was sonst noch zu Haushalt und Wirtschaftsführung gehörte,
rechts Mädchenstube, Bedientenstube, Rollkammer, links eine
zwischen Pferdestall und Wagenremise gelegene, von der Familie
Kruse bewohnte Kutscherwohnung. Über dieser, in einem Verschlage,
waren die Hühner einlogiert und eine Dachklappe über
dem Pferdestall bildete den Aus- und Einschlupf für die Tauben.
All dies hatte sich Effi mit vielem Interesse angesehen, aber
dies Interesse sah sich doch weit überholt, als sie, nach
ihrer Rückkehr vom Hof ins Vorderhaus, unter Innstettens
Führung die nach oben führende Treppe hinaufgestiegen
war. Diese war schief, baufällig, dunkel; der Flur dagegen,
auf den sie mündete, wirkte beinah' heiter, weil er viel Licht
und einen guten landschaftlichen Ausblick hatte: nach der einen
Seite hin, über die Dächer des Stadtrandes und die »Plantage«
fort, auf eine hoch auf einer Düne stehende holländische
Windmühle, nach der anderen Seite hin auf die Kessine, die
hier, unmittelbar vor ihrer Einmündung, ziemlich breit war
und einen stattlichen Eindruck machte. Diesem Eindruck konnte
man sich unmöglich entziehen, und Effi hatte denn auch nicht
gesäumt, ihrer Freude lebhaften Ausdruck zu geben. »Ja,
sehr schön, sehr malerisch,« hatte Innstetten, ohne
weiter darauf einzugehen, geantwortet, und dann eine mit ihren
Flügeln etwas schief hängende Doppelthür geöffnet,
die nach rechts hin in den sogenannten Saal führte. Dieser
lief durch die ganze Etage; Vorder- und Hinterfenster standen
auf, und die mehr erwähnten langen Gardinen bewegten sich
in dem starken Luftzuge hin und her. In der Mitte der einen Längswand
sprang ein Kamin vor mit einer großen Steinplatte, während
an der Wand gegenüber ein paar blecherne Leuchter hingen,
jeder mit zwei Lichtöffnungen, ganz so wie unten im Flur,
aber alles stumpf und ungepflegt. Effi war einigermaßen
enttäuscht, sprach es auch aus und erklärte, statt des
öden und ärmlichen Saals doch lieber die Zimmer an der
gegenübergelegenen Flurseite sehen zu wollen. »Da ist
nun eigentlich vollends nichts,« hatte Innstetten geantwortet,
aber doch die Thüren geöffnet. Es befanden sich hier
vier einfenstrige Zimmer, alle gelb getüncht, gerade wie
der Saal, und ebenfalls ganz leer. Nur in einem standen drei Binsenstühle,
die durchgesessen waren, und an die Lehne des einen war ein kleines,
nur einen halber Finger langes Bildchen geklebt, das einen Chinesen
darstellte, blauer Rock mit gelben Pluderhosen und einen flachen
Hut auf dem Kopf. Effi sah es und sagte: »Was soll der Chinese?«
Innstetten selber schien von dem Bildchen überrascht und
versicherte, daß er es nicht wisse. »Das hat Christel
angeklebt oder Johanna. Spielerei. Du kannst sehen, es ist aus
einer Fibel herausgeschnitten.« Effi fand es auch und war
nur verwundert, daß Innstetten alles so ernsthaft nahm,
als ob es doch etwas sei. Dann hatte sie noch einmal einen Blick
in den Saal gethan und sich dabei dahin geäußert, wie
es doch eigentlich schade sei, daß das alles leerstehe.
»Wir haben unten ja nur drei Zimmer, und wenn uns wer besucht,
so wissen wir nicht aus, noch ein. Meinst Du nicht, daß man
aus dem Saal zwei hübsche Fremdenzimmer machen könnte?
Das wäre so was für die Mama; nach hinten heraus könnte
sie schlafen und hätte den Blick auf den Fluß und die
beiden Moolen, und vorn hätte sie die Stadt und die holländische
Windmühle. In Hohen-Cremmen haben wir noch immer bloß
eine Bockmühle. Nun sage, was meinst Du dazu? Nächsten
Mai wird doch die Mama wohl kommen.«
Innstetten war mit allem einverstanden gewesen und hatte nur zum
Schlusse gesagt: »Alles ganz gut. Aber es ist doch am
Ende besser, wir logieren die Mama drüben ein, auf dem Landratsamt;
die ganze erste Etage steht da leer, gerade so wie hier, und sie
ist da noch mehr für sich.«
Das war so das Resultat des ersten Umgangs im Hause gewesen; dann
hatte Effi drüben ihre Toilette gemacht, nicht ganz so schnell
wie Innstetten angenommen, und nun saß sie in ihres Gatten
Zimmer und beschäftigte sich in ihren Gedanken abwechselnd
mit dem kleinen Chinesen oben und mit Gieshübler, der noch
immer nicht kam. Vor einer Viertelstunde war freilich ein kleiner,
schiefschultriger und fast schon so gut wie verwachsener Herr
in einem kurzen eleganten Pelzrock und einem hohen sehr glatt
gebürsteten Cylinder an der andern Seite der Straße
vorbeigegangen und hatte nach ihrem Fenster hinübergesehen.
Aber das konnte Gieshübler wohl nicht gewesen sein! Nein,
dieser schiefschultrige Herr, der zugleich etwas so Distinguiertes
hatte, das mußte der Herr Gerichtspräsident gewesen
sein, und sie entsann sich auch wirklich, in einer Gesellschaft
bei Tante Therese, mal einen solchen gesehen zu haben, bis ihr
mit einemmale einfiel, daß Kessin bloß einen Amtsrichter
habe.
Während sie diesen Betrachtungen noch nachhing, wurde der
Gegenstand derselben, der augenscheinlich erst eine Morgen- oder
vielleicht auch eine Ermutigungspromenade um die Plantage herum
gemacht hatte, wieder sichtbar, und eine Minute später erschien
Friedrich, um Apotheker Gieshübler anzumelden.
»Ich lasse sehr bitten.«
Der armen jungen Frau schlug das Herz, weil es das erste Mal war,
daß sie sich als Hausfrau und noch dazu als erste Frau der
Stadt zu zeigen hatte.
Friedrich half Gieshübler den Pelzrock ablegen und öffnete
dann wieder die Thür.
Effi reichte dem verlegen Eintretenden die Hand, die dieser mit
einem gewissen Ungestüm küßte. Die junge Frau
schien sofort einen großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben.
»Mein Mann hat mir bereits gesagt ... Aber ich empfange Sie
hier in meines Mannes Zimmer, ... er ist drüben auf dem Amt
und kann jeden Augenblick zurück sein ... Darf ich Sie bitten,
bei mir eintreten zu wollen?«
Gieshübler folgte der voranschreitenden Effi ins Nebenzimmer,
wo diese auf einen der Fauteuils wies, während sie sich selbst
ins Sofa setzte. »Daß ich Ihnen sagen könnte,
welche Freude Sie mir gestern durch die schönen Blumen und
Ihre Karte gemacht haben. Ich hörte sofort auf, mich hier
als eine Fremde zu fühlen, und als ich dies Innstetten aussprach,
sagte er mir, wir würden überhaupt gute Freunde sein.«
»Sagte er so? Der gute Herr Landrat. Ja der Herr Landrat
und Sie, meine gnädigste Frau, da sind, das bitte ich sagen
zu dürfen, zwei liebe Menschen zu einander gekommen. Denn
wie Ihr Herr Gemahl ist, das weiß ich, und wie Sie sind,
meine gnädigste Frau, das sehe ich.«
»Wenn Sie nur nicht mit zu freundlichen Augen sehen. Ich
bin so sehr jung. Und Jugend ...«
»Ach, meine gnädigste Frau, sagen Sie nichts gegen die
Jugend. Die Jugend, auch in ihren Fehlern ist sie noch schön
und liebenswürdig, und das Alter, auch in seinen Tugenden
taugt es nicht viel. Persönlich kann ich in dieser Frage
freilich nicht mitsprechen, vom Alter wohl, aber von der Jugend
nicht, denn ich bin eigentlich nie jung gewesen. Personen meines
Schlages sind nie jung. Ich darf wohl sagen, das ist das traurigste
von der Sache. Man hat keinen rechten Mut, man hat kein Vertrauen
zu sich selbst, man wagt kaum, eine Dame zum Tanz aufzufordern,
weil man ihr eine Verlegenheit ersparen will, und so gehen die
Jahre hin, und man wird alt, und das Leben war arm und leer.«
Effi gab ihm die Hand. »Ach, Sie dürfen so was nicht
sagen. Wir Frauen sind gar nicht so schlecht.«
»O nein, gewiß nicht ...«
»Und wenn ich mir so zurückrufe,« fuhr Effi fort,
»was ich alles erlebt habe ... viel ist es nicht, denn ich
bin wenig herausgekommen und habe fast immer auf dem Lande gelebt
... aber wenn ich es mir zurückrufe, so finde ich doch, daß
wir immer das lieben, was liebenswert ist. Und dann sehe ich doch
auch gleich, daß Sie anders sind als andere, dafür
haben wir Frauen ein scharfes Auge. Vielleicht ist es auch der
Name, der in Ihrem Falle mit wirkt. Das war immer eine Lieblingsbehauptung
unseres alten Pastors Niemeyer; der Name, so liebte er zu sagen,
besonders der Taufname, habe was geheimnisvoll Bestimmendes, und
Alonzo Gieshübler, so mein' ich, schließt eine ganz
neue Welt vor einem auf, ja, fast möcht' ich sagen dürfen,
Alonzo ist ein romantischer Name, ein Preziosa-Name.«
Gieshübler lächelte mit einem ganz ungemeinen Behagen
und fand den Mut, seinen für seine Verhältnisse viel
zu hohen Cylinder, den er bis dahin in der Hand gedreht hatte,
bei Seite zu stellen. »Ja, meine gnädigste Frau, da treffen
Sie's.«
»O, ich verstehe. Ich habe von den Konsuln gehört,
deren Kessin so viele haben soll, und in dem Hause des spanischen
Konsuls hat Ihr Herr Vater mutmaßlich die Tochter eines
seemännischen Capitanos kennen gelernt, wie ich annehme irgendeine
schöne Andalusierin. Andalusierinnen sind immer schön.«
»Ganz wie Sie vermuten, meine Gnädigste. Und meine Mutter
war wirklich eine schöne Frau, so schlecht es mir persönlich
zusteht, die Beweisführung zu übernehmen. Aber als Ihr
Herr Gemahl vor drei Jahren hierher kam, lebte sie noch und hatte
noch ganz die Feueraugen. Er wird es mir bestätigen. Ich
persönlich bin mehr ins Gieshübler'sche geschlagen, Leute
von wenig Exterieur, aber sonst leidlich im Stande. Wir sitzen
hier schon in der vierten Generation, volle hundert Jahre, und
wenn es einen Apothekeradel gäbe...«
»So würden Sie ihn beanspruchen dürfen. Und ich
meinerseits nehme ihn für bewiesen an und sogar für
bewiesen ohne jede Einschränkung. Uns, aus den alten Familien,
wird das am leichtesten, weil wir, so wenigstens bin ich von meinem
Vater und auch von meiner Mutter her erzogen, jede gute Gesinnung,
sie komme woher sie wolle, mit Freudigkeit gelten lassen. Ich bin eine
geborene Briest und stamme von dem Briest ab, der, am Tage vor der
Fehrbelliner Schlacht, den überfall von Rathenow ausführte,
wovon Sie vielleicht einmal gehört haben ...«
»O, gewiß, meine Gnädigste, das ist ja meine Spezialität.«
»Eine Briest also. Und mein Vater, da reichen keine hundertmale,
daß er zu mir gesagt hat: Effi (so heiße ich
nämlich), Effi, hier sitzt es, bloß hier, und
als Froben das Pferd tauschte, da war er von Adel, und als Luther
sagte 'hier stehe ich,' da war er erst recht von Adel. Und ich
denke, Herr Gieshübler, Innstetten hatte ganz recht, als
er mir versicherte, wir würden gute Freundschaft halten.«
Gieshübler hätte nun am liebsten gleich eine Liebeserklärung
gemacht und gebeten, daß er als Cid oder irgend sonst ein
Campeador für sie kämpfen und sterben könne. Da
dies alles aber nicht ging und sein Herz es nicht mehr aushalten
konnte, so stand er auf, suchte nach seinem Hut, den er auch glücklicherweise
gleich fand, und zog sich, nach wiederholtem Handkuß, rasch
zurück, ohne weiter ein Wort gesagt zu haben.
