Sie sprachen noch eine Weile so weiter, wobei sie sich ihrer gemeinschaftlichen
Schulstunden und einer ganzen Reihe Holzapfel'scher Unpassendheiten
mit Empörung und Behagen erinnerten. Ja, man konnte sich
nicht genug thun damit, bis Hulda mit einemmale sagte: »Nun
aber ist es höchste Zeit, Effi; Du siehst ja aus, ja, wie
sag' ich nur, Du siehst ja aus, wie wenn Du vom Kirschenpflücken
kämst, alles zerknittert und zerknautscht; das Leinenzeug
macht immer so viele Falten, und der große, weiße Klappkragen
... ja, wahrhaftig, jetzt hab' ich es, Du siehst aus wie ein Schiffsjunge.«
»Midshipman, wenn ich bitten darf. Etwas muß ich doch
von meinem Adel haben. Übrigens, Midshipman oder Schiffsjunge,
Papa hat mir erst neulich wieder einen Mastbaum versprochen, hier
dicht neben der Schaukel, mit Rahen und einer Strickleiter. Wahrhaftig,
das sollte mir gefallen, und den Wimpel oben selbst anzumachen,
das ließ' ich mir nicht nehmen. Und Du, Hulda, Du kämst
dann von der anderen Seite her herauf, und oben in der Luft wollten
wir Hurra rufen und uns einen Kuß geben. Alle Wetter, das
sollte schmecken.«
»'Alle Wetter ...' wie das nun
wieder klingt ... Du sprichst wirklich wie ein Midshipman. Ich
werde mich aber hüten, Dir nachzuklettern, ich bin nicht
so waghalsig. Jahnke hat ganz recht, wenn er immer sagt, Du hättest
zu viel von dem Bellingschen in Dir, von Deiner Mama her. Ich bin
bloß ein Pastorskind.«
»Ach, geh' mir. Stille Wasser sind tief. Weißt Du noch,
wie Du damals, als Vetter Briest als Kadett hier war, aber doch
schon groß genug, wie Du damals auf dem Scheunendach entlang rutschtest.
Und warum? Nun, ich will es nicht verraten. Aber kommt, wir wollen
uns schaukeln, auf jeder Seite zwei; reißen wird es ja wohl
nicht, oder wenn Ihr nicht Lust habt, denn Ihr macht wieder lange
Gesichter, dann wollen wir Anschlag spielen. Eine Viertelstunde
hab' ich noch. Ich mag noch nicht hinein gehen, und alles bloß,
um einem Landrat guten Tag zu sagen, noch dazu einem Landrat aus
Hinterpommern. Ältlich ist er auch, er könnte ja beinah' mein
Vater sein, und wenn er wirklich in einer Seestadt wohnt, Kessin
soll ja so 'was sein, nun, da muß ich ihm in diesem Matrosenkostüm
eigentlich am besten gefallen und muß ihm beinah' wie eine
große Aufmerksamkeit vorkommen. Fürsten, wenn sie wen
empfangen, so viel weiß ich von meinem Papa her, legen auch
immer die Uniform aus der Gegend des anderen an. Also nur nicht
ängstlich ... rasch, rasch, ich fliege aus und neben der
Bank hier ist frei.«
Hulda wollte noch ein paar Einschränkungen machen, aber Effi
war schon den nächsten Kiesweg hinauf, links hin, rechts
hin, bis sie mit einemmale verschwunden war.
»Effi, das gilt nicht; wo bist Du? Wir spielen nicht Versteck,
wir spielen Anschlag,« unter diesen und ähnlichen
Vorwürfen eilten die Freundinnen ihr nach, weit über
das Rondell und die beiden seitwärts stehenden Platanen hinaus,
bis die Verschwundene mit einemmale aus ihrem Verstecke hervorbrach
und mühelos, weil sie schon im Rücken ihrer Verfolger
war, mit »Eins, zwei, drei« den Freiplatz neben der
Bank erreichte.
»Wo warst Du?«
»Hinter den Rhabarberstauden; die haben so große Blätter,
noch größer als ein Feigenblatt ...«
»Pfui ...«
»Nein, pfui für Euch, weil Ihr verspielt habt. Hulda,
mit ihren großen Augen, sah wieder nichts, immer ungeschickt.«
Und dabei flog Effi von neuem über das Rondell hin, auf den
Teich zu, vielleicht weil sie vor hatte, sich erst hinter einer
dort aufwachsenden dichten Haselnußhecke zu verstecken,
um dann, von dieser aus, mit einem weiten Umweg um Kirchhof und
Fronthaus, wieder bis an den Seitenflügel und seinen Freiplatz
zu kommen. Alles war gut berechnet; aber freilich, ehe sie noch
halb um den Teich herum war, hörte sie schon vom Hause her
ihren Namen rufen, und sah, während sie sich umwandte, die
Mama, die, von der Steintreppe her, mit ihrem Taschentuch winkte.
Noch einen Augenblick, und Effi stand vor ihr.
»Nun bist Du doch noch in deinem Kittel, und der Besuch ist
da. Nie hältst Du Zeit.«
»Ich halte schon Zeit, aber der Besuch hat nicht Zeit
gehalten. Es ist noch nicht Eins; noch lange nicht,« und
sich nach den Zwillingen hin umwendend (Hulda war noch weiter
zurück) rief sie diesen zu: »Spielt nur weiter; ich
bin gleich wieder da.«
Schon im nächsten Augenblicke trat Effi mit der Mama in den
großen Gartensaal, der fast den ganzen Raum des Seitenflügels
füllte.
»Mama, Du darfst mich nicht schelten. Es ist wirklich erst
halb. Warum kommt er so früh? Kavaliere kommen nicht zu spät,
aber noch weniger zu früh.«
Frau von Briest war in sichtlicher Verlegenheit; Effi aber schmiegte
sich liebkosend an sie und sagte: »Verzeih', ich will mich
nun eilen; Du weißt, ich kann auch rasch sein, und in fünf
Minuten ist Aschenpuddel in eine Prinzessin verwandelt. So lange
kann er warten oder mit dem Papa plaudern.«
Und der Mama zunickend, wollte sie leichten Fußes eine kleine
eiserne Stiege hinauf, die aus dem Saal in den Oberstock hinaufführte.
Frau von Briest aber, die unter Umständen auch unkonventionell
sein konnte, hielt plötzlich die schon forteilende Effi zurück,
warf einen Blick auf das jugendlich reizende Geschöpf, das,
noch erhitzt von der Aufregung des Spiels, wie ein Bild frischesten
Lebens vor ihr stand, und sagte beinahe vertraulich: »Es
ist am Ende das Beste, Du bleibst, wie Du bist. Ja, bleibe so.
Du siehst gerade sehr gut aus. Und wenn es auch nicht wäre,
Du siehst so unvorbereitet aus, so gar nicht zurecht gemacht, und
darauf kommt es in diesem Augenblicke an. Ich muß Dir nämlich
sagen, meine süße Effi ...,« und sie nahm ihres
Kindes beide Hände, »... ich muß Dir nämlich
sagen ...«
»Aber Mama, was hast Du nur? Mir wird ja ganz angst und bange.«
»... Ich muß Dir nämlich sagen, Effi, daß
Baron Innstetten eben um Deine Hand angehalten hat.«
»Um meine Hand angehalten? Und im Ernst?«
»Es ist keine Sache, um einen Scherz daraus zu machen. Du
hast ihn vorgestern gesehen, und ich glaube, er hat Dir auch gut
gefallen. Er ist freilich älter als Du, was alles in allem
ein Glück ist, dazu ein Mann von Charakter, von Stellung
und guten Sitten, und wenn Du nicht 'Nein' sagst, was ich mir von
meiner klugen Effi kaum denken kann, so stehst Du mit zwanzig
Jahren da, wo andere mit vierzig stehen. Du wirst Deine Mama weit
überholen.«
Effi schwieg und suchte nach einer Antwort. Aber ehe sie diese
finden konnte, hörte sie schon des Vaters Stimme von dem
angrenzenden, noch im Fronthause gelegenen Hinterzimmer her, und
gleich danach überschritt Ritterschaftsrat von Briest, ein
wohl konservierter Fünfziger von ausgesprochener Bonhommie,
die Gartensalonschwelle - mit ihm Baron Innstetten, schlank, brünett
und von militärischer Haltung.
Effi, als sie seiner ansichtig wurde, kam in ein nervöses
Zittern; aber nicht auf lange, denn im selben Augenblicke fast,
wo sich Innstetten unter freundlicher Verneigung ihr näherte,
wurden an dem mittleren der weit offen stehenden und von wildem
Wein halb überwachsenen Fenster die rotblonden Köpfe
der Zwillinge sichtbar, und Hertha, die Ausgelassenste, rief in
den Saal hinein: »Effi, komm.«
Dann duckte sie sich, und beide Schwestern sprangen von der Banklehne,
darauf sie gestanden, wieder in den Garten hinab, und man hörte
nur noch ihr leises Kichern und Lachen.
