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Widersprüchliche Erinnerungen
Der Schweizerische Bauernkrieg von 1653 und seine Folgen
Artikel Neue Zürcher Zeitung, 17. Mai 2003
Vor 350 Jahren fand in der Alten
Eidgenossenschaft
der sogenannte Schweizerische Bauernkrieg von 1653 statt. Auffallend
ist,
dass die moderne Schweiz sich in unterschiedlicher Weise an das
Ereignis
erinnert. So haben die Bewohner des Entlebuchs, das damalige Zentrum
des
Widerstandes, am Palmsonntag eine grosse, von einem Gottesdienst,
Kranzniederlegungen
und einer Bundesratsrede würdig gerahmten Jubiläumsfeier
veranstaltet,
obwohl sie damals die Verlierer waren (vgl. NZZ, Nr.87). In diesem
Sommer
sollen heateraufführungen mit Hunderten von
Laienschauspielern
Szenen aus dem Krieg an Originalschauplätzen im Entlebucher
inszenieren.
Offensichtlich schwerer tun sich dagegen die politischen
Nachfolgeinstitutionen
der damaligen Sieger mit dem Bauernkrieg von 1653, Kanton und Stadt
Luzern.
Wie die offizielle Gedenkbroschüre des Kantons Luzern feststellt,
seien "Energie, Budget und ranstaltungskalender" im Vergleich zu
anderen kantonalen Jubiläen und insbesondere zum Jubiläum der
Schlacht bei Sempach im Jahre 1986 "unvergleichlich viel
kleiner".Wieder anders gelagert ist die Erinnerung an den Bauernkrieg
von 1653, welche
19 000 Bauern aus der ganzen Schweiz bei ihrer Demonstration am
9.Januar
1992 vor dem Bundeshaus in Bern zum Ausdruck brachten. Auf den
mitgeführten Transparenten (vgl.Bild) behaupteten die
demonstrierenden Bauern, dass
zwischen dem fernen Ereignis von 1653 und ihrem aktuellen Kampf gegen
die
Liberalisierung der Agrarmärkte im Rahmen des GATT (heute WTO) und
der EU eine historische Kontinuität bestehe. Die aktuellen
Forderungen
und die Demonstration, die zu schwersten Sachzerstörungen
führte,
erhielt dadurch eine besondere geschichtliche Weihe und
Rechtfertigung.Was gibt eigentlich Anlass zu diesen ganz
unterschiedlichen historischen Erinnerungen, die wir heute beobachten?
Was ist im Jahr 1653 geschehen?
Bauernkrieg
als europäisches Krisenphänomen
Schon Zeitgenossen bezeichneten
den schweizerischen Bauernkrieg von 1653 als eine "Revolution" und
brachten
damit die besondere Qualität dieses sozialen Kampfes zum Ausdruck.
Trotzdem war dieses Ereignis keineswegs singulär. Vielmehr
gehörte
der Bauernkrieg zu einer Welle heftiger innerer Konflikte, die um die
Mitte des 17. Jahrhunderts ganz Europa erschütterten. Praktisch
gleichzeitig
ereigneten sich in Frankreich die Fronde, in England die Revolution, in
Neapel und Palermo Bürgeraufstände und in Spanien der
Sezessionskrieg
der Provinz Katalonien von der Krone. Tatsächlich besassen all
diese
Konflikte in der europaweiten Krise des 17. Jahrhunderts gemeinsame
strukturelle Vorbedingungen. Genauso wenig, wie die moderne Schweiz das
heute vermag, konnte sich damals die Alte Eidgenossenschaft von den
europäischen Krisenphänomenen
abkoppeln. Die zunehmenden Finanznöte der europäischen
Höfe,
allen voran der spanischen und französischen Krone, führten
dazu,
dass die ausländischen Zahlungen in Form der Friedensgelder und
der
Pensionen für die Stellung der eidgenössischen Söldner
unregelmässig
flossen und stark zurückgingen. Der Rückgang dieser Gelder,
die
in allen Orten der Eidgenossenschaft einen wichtigen Beitrag zur
Finanzierung
der öffentlichen Haushalte leisteten, führten zusammen mit
wachsenden
Verteidigungsausgaben im Gefolge des Dreissigjährigen Kriegs dazu,
dass die Städteorte spätestens ab den 20er Jahren des 17.
Jahrhunderts
die Abgaben und Steuern auf die eigene Bevölkerung stark
erhöhen
mussten. Zugleich verschafften sie sich im Sinne einer schlechten
Alternative
zu Steuererhöhungen zusätzliche Einnahmen durch eine
staatlich
gelenkte Inflation in Gestalt von Münzverschlechterungen. Diese
Zunahme
des Ressourcentransfers von den Untertanen zu den Staatshaushalten
löste
an verschiedenen Orten der Eidgenossenschaft Steuerrevolten der
ländlichen
Untertanen aus, so 1629-36 in Luzern, 1640/41 in Bern und 1645/46 in
Zürich
und auch im Bauernkrieg von 1653 bildeten Steuererhöhungen und
Abgaben
wiederum ein zentraler Anlass und Streitpunkt für die
Auseinandersetzungen. Dies war umso stärker der Fall, als die
wachsende Steuerlast einseitig auf die Landbevölkerung
abgewälzt und umgekehrt die Stadtbewohner privilegiert wurden.
Auch die Folgekosten der Inflation wurden zwischen Stadt und Land
ungleich verteilt. Als die eidgenössischen Orte im Jahr1652
für die unumgänglich gewordene Sanierung der Währungen
die beinahe wertlos gewordenen Kupfermünzen, die sogenannten
Batzen, abwerten mussten, sorgten Insidergeschäfte dafür,
dass die Barbestände der Staatssäckel sowie die privaten
Vermögen wichtiger Magistraten auf Kosten der ländlichen
Bevölkerung geschont wurden.
Kriegskonjunktur und Friedensdepression
Ein weiterer wichtiger
Krisenmechanismus
bildete der abrupte Wechsel von der europäischen Kriegs- zur
Friedensordnung, der durch die Beendigung des Dreissigjährigen
Krieges eintrat. Von den bereits geschilderten negativen Wirkungen
für die öffentlichen Haushalte abgesehen, hatte die Schweiz
und allen voran die Landwirtschaft, von der damals 90% der
Bevölkerung lebten, durch den Dreißigjährigen Krieg
mehr als zwei Jahrzehnte lang stark profitiert. Zum einen fiel
nämlich die aufgrund von Standortvorteilen überlegene
Konkurrenz aus dem südlichen Deutschlands weg, die wegen den
Kriegsfolgen Produktionsausfälle zu beklagen hatte und nicht mehr
im großen Umfang in die Schweiz exportieren konnte. Zum anderen
konnte die schweizerische Landwirtschaft wegen des Kriegs jetzt selber
mehr ins Ausland exportieren. Beide Faktoren führten in der Alten
Eidgenossenschaft zu einer eigentlichen und langjährigen
Kriegskonjunktur der Landwirtschaft und des Handwerks, die dann aber
Mitte der 40er Jahre zusammenbrach und durch eine ausgeprägte
Friedensdepression abgelöst wurde. Die billiger produzierende
ausländische Konkurrenz eroberte
ihre Anteile auf dem eidgenössischen Markt bald wieder
zurück. Folgerichtig
fielen auch die Preise für Agrarprodukte und die bäuerlichen
Einkommen
sanken. Diese konjunkturelle Entwicklung hatte insofern
existenzbedrohende Wirkungen, als viele der Betriebe infolge der
Erbpraxis der Realteilung
einen hohen Verschuldungsgrad aufwiesen, ja diesen Verschuldungsgrad in
der günstigen Phase der Kriegskonjunktur womöglich noch
gesteigert
hatten. Angesichts des hohen Fremdkapitalanteils waren diese Betriebe
natürlich
für Einkommensrückgänge ungemein verwundbar.
Tatsächlich
konnten 1653 viele Bauern die Hypothekenzinsen nicht mehr aufbringen
und
standen buchstäblich vor dem Bankrott. Neben der bereits
erwähnten
Währungs- und Steuerproblematik bildete die Forderung nach
herrschaftlichen
Hilfsmassnahmen gegen die bäuerlichen Schuldenkrise einen dritten
Schwerpunkt
der Klagen und Forderungen, die im Bauernkrieg vorgebracht wurden. Da
Stadtbürger und städtische Einrichtungen wie Spitäler,
Stiftungen, Armenhäuser usw. jedoch zu den wichtigsten
Kreditgebern der Landwirtschaft gehörten und die Linderung der
bäuerlichen Schuldenkrise wiederum diese städtischen
Interessen beeinträchtigt hätte, lehnten die Obrigkeiten die
geforderten Hilfsmassnahmen konsequent ab.
Der Bauernkrieg als gescheiterte Revolution
Die geschilderten
Krisenzusammenhänge
bildeten nicht nur den Anlass für den Konflikt, sondern sie
prägten
auch den Konfliktes selber, der im Vergleich zu den zahlreichen anderen
Unruhen und Revolten, welche die Alte Eidgenossenschaft gesehen hatte,
sehr viel grösser und radikaler ausfiel. Die Tatsache, dass es
sich
um eine allgemeine Wirtschaftskrise handelte, vermag erstens zu
erklären, warum der Konflikt nicht nur auf das Territorium eines
Städteortes beschränkt
blieb, sondern mit Solothurn, Basel, Bern und Luzern gleich mehrere
Untertanengebiete gleichzeitig ergriff und beinahe auch die
Zürcher Landschaft und das Berner Oberland erfasst hätte. Die
Tatsache, dass der Bauernkrieg
von 1653 den End- und Höhepunkt einer ganzen Reihe kleinerer
Steuerrevolten bildete, kann zweitens erklären, warum die Bauern
sich 1653 im Vergleich zu anderen Bauernaufständen
ausserordentlich klug organisierten und
die lokalen Bewegungen zu einem allgemeinen Landbund der
aufständischen
Untertanen zusammenschlossen. Wichtige Exponenten des Bauernkriegs und
allen
voran die Anführer der Entlebucher Bewegung hatten nämlich
nachweislich
schon an früheren Aufständen teilgenommen. Diese hatten zwar
allesamt mit bäuerlichen Niederlagen geendet, aber die Erfahrung
mit früheren Niederlagen hatte Folgen. Sie ermöglichte den
Beteiligten Lernprozesse und vermittelte insbesondere die Einsicht,
dass dieses Mal nur ein gemeinsames, koordiniertes Vorgehen den Erfolg
bringen werde. Diese Einsicht wurde mit den Bauernbünden, zuerst
im Wolhuser Bund der Luzerner Untertanen und dann im allgemeinen
eidgenössischen Landbund der Luzerner, Berner,
Basler und Solothurner Untertanen, tatsächlich umgesetzt. Eine
dritte
herausragende Qualität des Konflikts lässt sich mit Hilfe der
grossen Militär- und Verhandlungsmacht erklären, welche die
ländlichen
Untertanen dank der geographischen Ausdehnung und der guten
Organisation
der Bewegung zustandebrachten.Die Aufständischen, beflügelt
durch
ihre grossen Anfangserfolge, gaben nämlich ihre anfänglich
noch
bescheidenen und rein wirtschaftlichen Forderungen auf und stellten
zunehmend
revolutionäre politische Forderungen. Die ländlichen
Untertanen
forderten nun nichts weniger als ihre Beteiligung an der
Souveränität
der Obrigkeiten der Städteorte. Auf der Ebene der einzelnen Orte
sollte
das durch eine institutionalisierte Beteiligung am herrschaftlichen
Gesetzgebungsprozess geschehen. Wie das in den Landsgemeindeorten
bereits der Fall war, sollten sich die Männer der Landschaft zu
Gemeinden versammeln, um über die Gesetze zu beraten und
abzustimmen.Auf der Ebene der gesamten Eidgenossenschaft sollte der
eidgenössische Bauernbund fortbestehen und eine politische wie
militärische Gegenmacht zur herrschaftlichen Tagsatzung bilden.
Die Realisierung dieser Forderungen hätte die politischen
Verhältnisse der Alten Eidgenossenschaft radikal verändert
und die Stellung der
ländlichen Untertanen in einem für das Europa der frühen
Neuzeit beispiellos grossen Umfang verbessert.
Folgen
Angesichts der Radikalität
der politischen Forderungen wurde ein Kompromiss unmöglich. Also
musste
der Krieg die Entscheidung bringen, den die Aufständischen nach
kurzen
Scharmützeln gegen die an Geldmitteln und Ausrüstung
überlegenen
herrschaftlichen Truppen verloren. Trotz der militärischen
Niederlage
konnten die Aufständischen jedoch eine ganze Reihe wichtiger
Forderungen
auf dem Bereich der Wirtschaft, der Rechtssprechung, der
Herrschaftsverwaltung
sowie der Steuern durchsetzen. Dieses auf den ersten Blick ebenso
erstaunliche
wie großzügige Entgegenkommen der städtischen
Obrigkeiten
war der Tatsache geschuldet, dass der Bauernkrieg von 1653 die
Herrschaften
an den Rande einer Niederlage gebracht hatte. Das Ereignis hatte ihnen
klar vor Augen geführt, dass sie keine geeigneten Truppen
besaßen,
um ihre ländlichen Untertanen militärische dauerhaft und
effizient
disziplinieren zu können. Tatsächlich war der Sieg der
Städteorte
nur dank den Milizen der Länderorte und anderer Städteorte
möglich
geworden. Wie die Aufständischen waren diese Milizen aber
ebenfalls
aus ländlichen Untertanen und Bauern zusammengesetzt, was sich
während
des Bauernkrieg als höchst gefährlich erwies. Die
militärische
Kampagne zeigte nämlich, dass die herrschaftlichen Truppen mit den
Aufständischen in vielerlei Hinsicht politisch sympathisierten und
entsprechend militärisch höchst unzuverlässig waren. Mit
den sehr weitgehenden Konzessionen sollten demnach weitere
Aufstände inskünftig schon im Ansatz verhindert werden. Sie
führten insgesamt zum Ergebnis, dass die staatliche Entwicklung in
der Alten Eidgenossenschaft eine andere Richtung einschlug.
Während sich zum Beispiel in Frankreich und im Königreich
Neapel genau zur selben Zeit im Ergebnis der Fronde bzw. des
Bürgeraufstandes der Absolutismus endgültig durchsetze, hielt
in den eidgenössischen Orten stattdessen ein weniger
drückendes, "paternalistisches Regiment" Einzug. Dieses
paternalistische Regiment stellte nicht nur die Kontinuität zur
staatlichen Entwicklung im 15. und 16. Jahrhundert wieder her, sondern
schuf in verschiedener Hinsicht günstige Bedingungen für den
Erfolg der liberalen Revolutionen im 19. Jahrhundert. Insgesamt war das
sicherlich ein grosser Teilerfolg der Aufständischen. Der Preis
dafür war jedoch schrecklich hoch: Es gab 1653 Gefallene
und Hingerichtete, zerstörte Häuser und Existenzen und zudem
waren
von der Landbevölkerung über Jahre hinweg hohe Geldstrafen zu
leisten.
Konträre Erinnerungen als Tradition
In den zeitgenössischen
Quellen wird der geschilderte Zusammenhang zwischen Widerstand und
Konzessionen
allerdings nur selten zugegeben, zweifellos aus Sorge, dass sich
nachfolgende
Generationen von Untertanen daran ein "exemplo" nehmen könnten,
wie
an einer Stelle von der Obrigkeit der Stadt Luzern mit entwaffnender
Offenheit
festgestellt wird. Kaum war das Ereignis zu Ende, begann also schon der
Kampf um die Frage, was denn eigentlich geschehen und was erinnert
werden
sollte. Während die ländliche Bevölkerung ihre
hingerichteten
Anführer als Heilige und Märtyrer verehrten, die für
eine
gerechte Sache gestorben waren, versuchten die Obrigkeiten, die
kollektiven
Erinnerung an dieses Ereignis in eine ganz andere, ihr genehme Form zu
giessen.Alles,
was in irgend einer positiven Weise an den Bauernkrieg hätte
erinnern
können, wurde verboten und unterdrückt. Erst im 19.
Jahrhundert
wurde dieses herrschaftlichen Deutungsmuster durchbrochen, zuerst durch
die liberalen Historiker, später durch marxistische Historiker wie
Hans Mühlestein. Viele Historiker schrieben jedoch die negative
Bewertung
des Bauernkriegs im Interesse einer teleologisch konstruierten
Nationalgeschichte
unverdrossen fort. Da man den Schweizer Nationalstaat seit dem
ausgehenden
19. Jahrhundert als eine Republik von "Bürgern und Bauern"
charakterisierte,
musste man umgekehrt im Bauernkrieg von 1653 eine für die
Schweizer
Geschichte gänzlich atypische, den "nationalen Interessen, dem
eidgenössischen
Wesen zuwiderlaufende" (Johannes Dierauer) Erscheinung sehen.
Folgerichtig
musste der Schwyzer Professor A. D. Bommer, welcher zur erbaulichen
Feier
des 600-jährigen Bestehens dieses "Bürger- und Bauernstaates"
im
Jahr 1891 ein historisches Schauspiel verfasste, den bereits fertigen
Text
auf Verlangen des Organisationskomitees nochmals umschreiben und die
Szene,
die er unvorsichtigerweise dem Bauernkrieg von 1653 gewidmet hatte,
gänzlich
streichen; der Konflikt wurde aus dem kollektiven Gedächtnis der
nationalen
Festgemeinde verbannt.
Der Bauernkrieg von 1653 als Lehrstück
Unterschiedliche, ja
gegensätzliche
Erinnerungen an das Ereignis von 1653 prägen also nicht nur die
Gegenwart,
sie haben Tradition.Genau darin liegt meines Erachtens eine wertvolle
Erfahrung, die uns dieses ferne Ereignis auch für die Gegenwart
und Zukunft vermitteln kann. Das Ereignis des Bauernkriegs zeigt
beispielhaft auf, wie Erinnerungen und Deutungen von Ereignissen
überhaupt funktionieren. Die Existenz unterschiedlicher,
gegensätzlicher und immer wieder neuer Erinnerungen an Ereignisse
erklärt sich damit, dass kollektives Erinnern stets im Horizont
gegenwärtiger Erfahrungen erfolgt, also perspektivisch offen,
veränderbar und nie neutral ist. Schon während des
Ereignisses selber beginnt der Deutungskampf um das Geschehene, der
immer auch ein politischer Interessen- und Machtkampf ist. Menschen,
Kollektive und politische Bewegungen definieren sich über die
gemeinsame Deutung von Ereignissen und grenzen zugleich andere Menschen
aus. Über Deutungen von Ereignissen erfolgen mit andern Worten
Inklusion und Exklusion, werden Grenzen gezogen und Identitäten
gebildet. Das Umgekehrte gilt aber auch. Genauso wie wir vergangene
Ereignisse im Lichte der gegenwärtiger Erfahrungen deuten,
interpretieren wir umgekehrt
die Gegenwart und Zukunft im Lichte von Deutungen vergangener
Ereignisse,
die auf diese Weise gegenwärtiges und zukünftiges Handeln
orientieren und legitimieren.
Historische Erinnerungen und
Zukunftserwartungen
Dass der unauflösliche
Zusammenhang zwischen historischen Erfahrungen und Zukunftserwartungen
unter Umständen tragische Ergebnisse zeitigen kann, zeigt folgende
Episode des Bauernkriegs, die sich am frühen Morgen des 29.
Septembers
1653 abgespielt hatte. An diesem Tag, der Krieg war längst
entschieden
und die Niederlage der Aufständischen besiegelt , verübten
drei
Entlebucher Untertanen ein Attentat auf eine Luzerner Ratsdelegation .
Der
Luzerner Schultheiss wurde verwundet, ein Ratsherr getötet.Urheber
der Tat waren drei junge Männer aus Schüpfheim, die
während des ganzen Bauernkriegs als die bekannten "drei Tellen"
oder "alten Eidgenossen" aufgetreten waren und dabei stets
entsprechende historische Kostüme
getragen hatten. Nach den Namen, die sich die Attentäter selber
gaben,
und nach den Kleidern, die sie trugen, zu urteilen, kann kein Zweifel
bestehen.
Die drei hatten sich für ihre Tat die Geschichte von Wilhelm Tell
und
seinem Tyrannenmord an Gessler zum Vorbild genommen hatten. Einer der
dreiAttentäter kommentierte denn auch den Tod des Ratsherren mit
der Feststellung, "den
Tellenschuss gethan" zu haben. Tatsächlich waren Wilhelm Tell und
seine
Geschichte seit dem ausgehenden Mittelalter Bestandteil einer sowohl
elitären wie populären Überlieferung. Danach hatten die
Alten Eidgenossen bzw. Wilhelm Tell die Eidgenossenschaft mit
kühnen kriegerischen Taten oder sogar einem einzigen herzhaften
Schuss von der Habsburger Tyrannei
befreit. Liess sich das, was schon einmal funktioniert hatte, nicht
wiederholen?
Genau das war die auf historischen Erinnerungen gestützte
Zukunftserwartung der Aufständischen von 1653. Genau das war das
Kalkül jener Tausenden von Landbewohnern, die vorher in den Krieg
gegen die überlegenen herrschaftlichen Truppen gezogen waren und
es war auch das Kalkül der drei Attentäter, die nach dem
verlorenen Krieg die Sache der Aufständischen durch das Attentat
doch noch zum Erfolg führen wollten. Der Schultheis "si gar
fürnem. Hab alles Commando und wenn er tod, werde sich vil
ändern" – so formulierte einer drei Attentäter seine
Erwartungen vor dem Attentat für die Zukunft, die seine ruchlose
Tat motivierten und sich dabei auf das historische Beispiel von Wilhelm
Tell stützten.
Enttäuschte Erwartungen
Alle diese
Erwartungen
wurden jedoch aufs Gründlichste enttäuscht. Die Bauerntruppen
mussten sehr rasch die Überlegenheit der herrschaftlichen Truppen
anerkennen und lösten sich folglich beinahe von selber auf. Das
Attentat
war zwar technisch erfolgreich, aber die getroffenen Magistrate wurde
schlicht
und einfach durch andere ersetzt. Fatal war, dass die Attentäter
und
mit ihnen alle Bewohner der Alten Eidgenossenschaft, welche die
verbreitete Tellen-Geschichte allesamt für wahr hielten, nicht
wussten, was wir heute wissen: Die Geschichte von Wilhelm Tell, den
alten Eidgenossen und
deren Sieg gegen die Habsburger Tyrannei erzählt ein fiktionales
Ereignis: Burgenbrüche und einen Wilhelm Tell hatte es niemals
gegeben, ebenso wenig ein erfolgreiche Tyrannemord. Trotzdem: So war es
1653 überliefert und in der Gewissheit, man könne den
vermeintlich historisch verbürgten Erfolg wiederholen, wurde zur
Tat geschritten. Wären dabei nicht
Menschen umgekommen, setzte diese Episode dem Ereignis von 1653 eine
heitere
Schlusspointe. Stattdessen endete die Geschichte tragisch. Das
tragische
Ende führt uns aber einmal mehr und sehr klar die Problematik
historischen
Erinnerns vor Augen. Wir können und sollen aus vergangen
Erfahrungen
mit Ereignissen gewiss lernen und aus Schaden klug werden. Wir
können
uns aber auch falsch an vergangene Ereignisse erinnern oder
gänzlich
Falsches erinnern und im Horizont vermeintlicher historischer Erfahrung
für die Zukunft denkbar falsche Schlüsse ziehen. Das ist
nicht
nur 1653 geschehen, das geschieht immer wieder von Neuem. Die
eschichtswissenschaftliche
Beschäftigung mit Ereignissen, die sorgfältig rekonstruiert
und differenziert, ist deshalb wichtig und eine lohnende
Zukunftsinvestition.
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